Donnerstag, 12. Juni 2008

Julian Nida-Rümelin zum Bedingungslosen Grundeinkommen - Kritik der Kritik

Unter der Überschrift:
Integration statt Ausstieg
- ein bedingungsloses Grundeinkommen würde unsere Gesellschaft noch weiter spalten,

veröffentlichte die Frankfurter Rundschau am 12. Juni 2008 einen kritischen Aufsatz von Julian Nida-Rümelin zum Bedingungslosen Grundeinkommen. Hier nun meine Kritik der Kritik.

Nida Rümelin weist eingangs darauf hin, dass es "gegenwärtig ein ungewöhnlich breites Spektrum von Befürwortern eines bedingungslosen Grundeinkommens [gibt]" und die "Konfliktlinie pro und contra bedingungsloses Grundeinkommen nicht nach einem links-rechts Schema [verläuft]. Diese Feststellung legt eigentlich nahe, sich sodann mit den verschiedenen Motiven und Zielen der einzelnen Verfechter auseinanderzusetzen und zu fragen ob und welche davon warum zu verwerfen und welche aus welchem Grund womöglich zu befürworten wären. Eine solche Auseinandersetzung erübrigt sich für Nida-Rümelin allerdings von vornherein. Für ihn ist offenbar nur das seiner Ansicht nach allen Konzepten Gemeinsame wichtig: das Ziel eines radikalen Systemwechsels. Damit deutet sich bereits an: egal wie ein solcher Wechsel aussehen soll oder wird - er scheint dem Autor von vornherein nicht wünschenswert. Weiter heißt es: "In den letzten Jahrzehnten ist die These vom Ende der Arbeitsgesellschaft hinzugetreten, die davon ausgeht, dass Erwerbsarbeit durch Rationalisierungsprozesse zu einem knappen Gut wird, so dass in Zukunft andere Einkommensquellen als die Erwerbsarbeit erforderlich werden. Diese These[...] ist empirisch nicht belegt."

Dazu ließe sich einwenden, dass diese These sehr wohl belegt ist, da es infolge von Rationalisierung immer wieder zu Massenarbeitslosigkeit kommt, die zum Teil dadurch, dass sie ihrerseits Arbeitsplätze für Verwaltung und Betreuung der (gerade) Überflüssigen schafft teilweise etwas an Schärfe verliert. Dass es immer einer Erwerbstätigkeit nachgehende und daneben solche, die keinen Zugang zu ihr finden gibt, wird freilich erst dadurch zum Problem, dass in einer Gesellschaft, die der Erwerbsarbeit als einem Ethos huldigt, diejenigen, die gerade ausgeschlossen sind, stigmatisiert und diffamiert werden. Ferner lässt sich feststellen, dass die von Nida-Rümelin befürchtete Spaltung längst schon nicht nur Bestandteil, sondern fundierendes Element der bürgerlichen Gesellschaft ist. Ein Element, das seit je nur notdürftig dadurch, dass formal alle Mitglieder der Gesellschaft zu freien Bürgern erklärt werden, verschleiert wird. Auf diese Spaltung verweist Nida-Rümelin im Folgenden implizit selbst, wenn er feststellt, dass mit dem BGE "zum ersten Mal der Zwang zur Arbeit nicht nur für einige wenige, sondern für alle im arbeitsfähigen Alter entfallen" würde, ohne jedoch weiter darauf einzugehen, warum denn gegenwärtig die Mehrheit dem Zwang zur Arbeit ausgesetzt ist und warum das für einige wenige nicht gilt und kommt dann zu seinem "zentrale[n] Argument gegen diese so attraktive Idee": der "zu erwartende[n] fundamentale[n] Spaltung der Gesellschaft, in sozialer, kultureller und geschlechtlicher Hinsicht."

Zur Gefahr der sozialen Spaltung führt der Autor an, dass [s]chon ein bescheidenes bedingungsloses Grundeinkommen zu einer extrem hohen Steuerbelastung führen [würde]. Dem ist entgegenzuhalten, dass er sich offenbar nicht mit den zu erwartenden Kosten auseinandergesetzt hat. Dazu ist zu z.B. bei FOCUS.de zu lesen, dass die Sozialausgaben der Bundesrepublik im Jahr 2005 bei rund 690 Mrd. Euro lagen. Hans Werner Sinn (Ist Deutschland noch zu retten?) gibt für das Jahr 2002 Sozialausgaben in Höhe von 685 Mrd. Euro an, von denen "nur" 395 Mrd. Euro aus den Sozialkassen stammen, d.h. unmittelbar von denen aufgebracht werden, die mehrheitlich selbst auf Sozialtransfers noch am ehesten angewiesen sind: den sozialversicherungspflichtig abhängig Beschäftigten. (Beispiel: Man zahlt in die Rentenkasse oder Alo-Versicherung und beantragt Wohngeld, erhält Kindergeld usw.). Legt man die 690 Mrd. Sozialausgaben auf 80 Millionen Bundesbürger um, so ergibt sich ein pro-Kopf Betrag von 8225 Euro im Jahr. Auch wenn vermutlich mit der Einführung eines BGE (die ja keineswegs mit einem Schlag vollzogen werden müsste, sondern ggf. schrittweise einzuführen wäre) nicht alle in den 690 Mrd. Euro enthaltenen Leistungen fortfallen würden, so gibt es dennoch keinen Grund rundheraus zu behaupten, dass ein BGE nicht finanzierbar sei. Weiter lesen wir:

"Eine Existenz auf der Basis des bedingungslosen Grundeinkommens wird nur für Teile der Bevölkerung attraktiv sein, dazu gehören insbesondere Jüngere in der Phase nach dem Abschluss ihres Bildungsweges und vor dem Einstieg in die Erwerbstätigkeit und diejenigen, die etwa durch innerfamiliäre Transferleistungen aus Arbeitseinkommen ihren Lebensstandard oberhalb des bedingungslosen Grundeinkommens sichern können."

Immerhin - wo man seinen Lebenstandard "durch innerfamiliäre Transferleistungen aus Arbeitseinkommen ihren Lebensstandard oberhalb des bedingungslosen Grundeinkommens sichern" kann, da muss entweder ein Teil der Familie erwerbstätig sein und über ein überdurchschnittliches Einkommen verfügen oder es muss ein gewisses Vermögen vorhanden sein, von dem sich leben lässt, ohne dass es in seiner Substanz angegriffen wird. Man darf also annehmen, dass die zu dieser Kategorie zu zählenden Aussteiger gerade nicht unbedingt auf die Einführung eines BGE angewiesen sind, um sich einem dauerhaft arbeitslosen Leben hingeben zu können. Im Übrigen ist die Höhe der für die Finanzierung eines BGE erforderlichen Steuermittel davon abhängig, wie viele Menschen sich darauf beschränken, ausschließlich von ihrem Grundeinkommen zu leben, denn den "Einkommenstarken" muss das BGE ja nicht ausgezahlt, sondern kann ihnen ggf. als Steuerfreibetrag gutgeschrieben werden, - Und es ist eigentlich auch nicht zu erwarten, dass eine überwältigende Mehrheit der Menschen dieses Grundeinkommen als zureichend ansehen wird, dafür sind die Verlockungen die von diversen "überflüssigen" Konsumgütern ausgehen, vermutlich doch zu groß und der gewohnte materielle Lebensstandard der meisten Bürger (noch?) zu hoch..

Zum nächsten Punkt, "Absenz von der Erwerbstätigkeit":

Die empirische Evidenz ist jedoch überwältigend, dass eine längere Absenz von der Erwerbstätigkeit die Erwerbsfähigkeit drastisch reduziert. Absolventen müssen nach Abschluss ihrer Ausbildung bzw. ihres Studiums rasch in das Erwerbsleben integriert werden, weil sonst ihre Qualifikation an Wert verliert. Langzeitarbeitslose sind auch dann nur schwer in das Erwerbsleben zu integrieren, wenn sie über gute Qualifikationen verfügen. Anreize zur langjährigen Absenz vom Erwerbsleben sind schon von daher unverantwortlich. Sie führen zu einer Spaltung der Gesellschaft in dauerhaft Erwerbstätige und dauerhaft - wenn auch mit bedingungslosem Grundeinkommen versorgte - Erwerbslose."

Wenn das so ist, dann fragt man sich, warum ein - gewissen Berufsgruppen mögliches - sog. "Sabbatjahr" nicht zu einer Beschränkung der Erwerbsfähigkeit führt? - Was ist das überhaupt: Erwerbsfähigkeit? Eine neue Kunst? - Und was ist eine Qualifikation, die "an Wert verloren hat"? Eine, die nicht (mehr) ausreicht? Dann wäre sie nicht wertloser, sondern einfach nicht gegeben oder der angestrebten Tätigkeit nicht angemessen. Oder weil sie nicht "angewandt" wurde? Das wurde sie auch (noch) nicht, wenn der Absolvent unmittelbar nach dem Abschluss ins Berufsleben einsteigt. Dass Langzeitarbeitslose schwer integrierbar sind, weil sie langzeitarbeitslos sind, ist zumindest in Teilen eine Verkehrung von Ursache und Wirkung und als These so monokausal ohnehin nicht zu belegen. Dazu müssten die besonderen Begleitumstände der Langzeitarbeitslosigkeit unter gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen hinzugezogen, untersucht und ausgewertet werden. Und dann würde man evtl. feststellen, dass nicht die Dauer der Absenz von der Erwerbstätigkeit das entscheidende Moment für die Dauer der Absenz von der Erwerbstätigkeit sein kann. Alles in allem sagt Nida Rümelin hier nicht mehr als: "Langzeitarbeitslose sind langzeitarbeitslos, weil sie langzeitarbeitslose Langzeitarbeitslose sind". - Meinen Glückwunsch zu dieser Erkenntnis! Der Umkehrschluss: dass manche Menschen einfach schwer ins moderne Erwerbsleben zu integrieren und deshalb langfristig ohne Anstellung sind, ist da wohl eher einleuchtend. Außerdem ist die Annahme, dass die Gesellschaft sich in "dauerhaft Erwerbstätige und dauerhaft [...] Erwerbslose." spalten werde unzulässig - je mehr Menschen sich zeitweilig aus dem Erwerbsleben zurückzögen, desto unwahrscheinlicher würde eine solche Spaltung, die N-R eben nur deswegen konstruieren kann, weil er die Möglichkeit des "Teilzeitausstiegs" gar nicht erst ernstlich in Betracht zieht.

Weiter geht es mit der Gefahr der kulturellen Spaltung

"Die kulturelle Spaltung der Gesellschaft: Für manche kulturelle Milieus ist die Existenz auf der Basis eines bedingungslosen Grundeinkommens unattraktiv, das gilt besonders für diejenigen, die über ihr individuelles Dasein hinaus Verantwortung, zum Beispiel in Form von Elternschaft und Familie, übernommen haben. Aber auch für diejenigen, die sich vom Beruf durch seine Gestaltungsmöglichkeiten, die sozialen Netze und die gesellschaftliche Anerkennung mehr als nur ein gesichertes Arbeitseinkommen erwarten. Der kulturellen Integration durch Erwerbstätigkeit, durch Arbeitsethos und Berufsverantwortung, durch Entwicklungschancen und strukturierte Kooperationen im Berufsleben steht die kulturelle Integration durch freiwilliges, meist nur punktuelles und kurzfristiges Engagement oder auch die Cliquenbildung der Freizeitgesellschaft gegenüber."

Die alte Leier: Die einen arbeiten gerne und finden Erfüllung in ihrem Dasein, weil ihnen ihr Beruf neben dem gesicherten Einkommen auch "Gestaltungsmöglichkeiten, die sozialen Netze und die gesellschaftliche Anerkennung" bietet und brauchen schon deswegen so ein doofes BGE überhaupt nicht und die anderen, denen eh nur ein prekäres Einkommen winkt, soll man bloß nicht durch ein BGE vom Arbeiten abhalten - wo bliebe denn auch die schöne Erfüllung, ohne Gehilfen, die die Drecksarbeit machen? Außerdem sorgt die allgemeine Erwerbstätigkeit für "kulturelle Integration". Und auch hier wieder: reine Schwarz-Weiß Malerei: Entweder Beruf oder Freizeit - tertium non datur -; irgend etwas ganz anderes, das weder dem einen noch dem anderen voll entspräche, bleibt jenseits des Nida-Rümelinschen Vorstellungsvermögens. Mir scheint mitunter, dass wo heutzutage "Integration" gesagt wird, immer öfter Repression und Totalitarismus gemeint sein mögen.

"Man wird hier entgegenhalten, dass doch auch politisches und bürgerschaftliches Engagement all die Möglichkeiten und Verpflichtungen bereitstellt, die im Beruf eine Rolle spielen können. Die empirischen Befunde sind aber auch hier andere. Die Bereitschaft zu bürgerschaftlichem politischen Engagement sinkt drastisch mit dem Ausstieg aus dem Erwerbsleben, das gilt nicht nur für Arbeitslose, sondern auch für Ruheständler. Die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens würde die ohnehin bestehende kulturelle Spaltung der Gesellschaft in beruflich Integrierte und beruflich Nicht-Integrierte, sei es durch prekäre und häufig wechselnde Beschäftigungsverhältnisse oder durch Arbeitslosigkeit, vertiefen."

Gut, dass wir die möglichen Entgegenhaltungen schon vorher kennen; und auch hier wieder: kein Wort über die gesellschaftlich bedingten Begleitumstände. Die spezifischen Bedingungen der Arbeitslosigkeit unter herrschenden Verhältnissen werden einfach nicht weiter hinterfragt, sondern das aus ihnen entspringende Verhalten wird zum zeitlosen Prinzip erhoben. Und nebenbei: die Frage ist doch, ob man von "Arbeitslosigkeit" da überhaupt noch wird reden können - wo Erwerbsarbeit ihren (gesellschaftlichen) Zwangscharakter verloren hat?

Und nun noch zur Gender Spaltung:

"Die Gender-Spaltung: Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde sich in der Realität wie eine üppig ausgestattete "Herd-Prämie" auswirken, wie sie von der CSU vorgeschlagen worden ist. In vielen Migranten-Familien, in denen die die Berufstätigkeit der Frau nach wie vor kulturell fremdartig ist, wäre das Thema der Berufstätigkeit der Ehefrau endgültig erledigt. Millionen von Frauen, die gegenwärtig - unter den aktuellen sozialen Bedingungen mühsam genug - Mutterschaft und Beruf zu verbinden versuchen, würden aus dem Erwerbsleben vorübergehend und in den meisten Fällen wohl auch endgültig ausscheiden. Die bestehende Gender-Spaltung würde dramatisch vertieft werden."

Hurra, wir haben ein Reizwort! Die "Herd-Prämie", "üppig ausgestattet" obendrein, solls richten. Hier meldet sich einmal mehr der alte Obrigkeits- und Zwangsstaat - dieses Mal im Namen von Emanzipation und Integration - zu Wort. - Dabei ist m.E. höchst unklar, wie weit sich diese Begriffe überhaupt vereinbaren lassen. In vorgängigen gesellschaftlichen Verhältnissen war ja auch hierzulande gerade die emanzipierte Frau eher nicht "integriert". Man könnte dieses "Argument" auch so lesen: "Wenn wir Migranten integrieren wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass alle erwachsenen Familienmitglieder gezwungen sind einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, denn aus freien Stücken werden die Frauen der Emigranten nie einen Beruf ergreifen (dürfen)." Und was heißt hier "Mutterschaft und Beruf"? Warum nicht "Elternschaft und Beruf?" - Vielleicht würde ja auch mancher Vater lieber vorübergehend auf sein Erwerbsleben verzichten oder es einschränken zugunsten der Familie? - Richtig ist, dass jeder Mensch, der irgendeinem Beruf nachgehen möchte, daran nicht gehindert werden sollte. Es ist aber etwas ganz anderes, der gesamten Bevölkerung ein möglichst dauerndes und ununterbrochenes Erwerbsleben geradezu aufzuzwingen. Wenn ich meine Kinder lieber selbst aufziehen möchte, statt sie irgendwelchen Profi-Erziehern zum Zwecke des Broterwerbs zur Verfügung zu stellen und sie somit von vornherein zu marktrelevanten Objekten zu machen, dann muss das bitteschön meine Sache bleiben - Ja - ich weiß - das geht so natürlich nicht - wenn ich weniger arbeite und infolgedessen auch noch die Nachfrage nach Erzieherarbeitsplätzen senke, dann ist das vielleicht gut für mein Sozialleben aber gar nicht gut für das Sozialprodukt.

"In Deutschland besteht eine deutliche Fehlallokation sozialer Ressourcen, ein Beispiel ist die Familienförderung. Die gewaltigen Summen, die etwa über das Kindergeld zur Förderung von Familien eingesetzt werden, verfehlen den gewünschten Effekt. Weder führen sie zur ökonomischen Selbstbestimmung der Frauen noch zu einer angemessenen Betreuung der Kinder. In Deutschland gibt es zu wenige Ganztagseinrichtungen, zu wenige Krippen, zu wenige Ganztagsschulen, eine unzureichende Förderung von Bildungsinstitutionen, weil die Mittel fehlen, um diese Angebote zu finanzieren. Stattdessen fließen Milliarden-Summen unabhängig von der Bedürftigkeit in die privaten Haushalte und heben dort den Lebensstandard ein wenig an. Die Freiheitsgewinne von Eltern und die Bildungsgewinne von Kindern würden in weit höherem Maße durch den Einsatz eines Großteils dieser Mittel für Ganztagseinrichtungen gefördert."

Dass das Kindergeld nicht einmal hinreichend ist, zur Existenzsicherung der Kinder und damit schon gar zur Existenzsicherung (mindestens) eines Erwachsenen und seiner Kinder und schon deshalb eine "ökonomische Selbstbestimmung" durch es nicht zu erreichen ist, wird man wohl niemandem erklären müssen. Ein BGE hingegen, das ja auch für die Kinder - anstelle des entfallenden Kindergeldes - zu zahlen wäre, könnte einiges zur "ökonomischen Selbstbestimmung" (und nicht nur: der Frauen und Eltern) beitragen.

Ferner fragt sich, ob Ganztagseinrichtungen zur Kinderbetreuung die einzige oder überhaupt eine generell richtige und allgemein wünschenswerte Lösung darstellen. Gemeinschaftliche und außerhäusliche Erziehung ist weder eine Erfindung unserer Zeit noch unserer Kultur. Neu daran ist allerdings, dass die Erzieher aus Erwerbsgründen ihre Tätigkeit ausüben (müssen) wobei die Passion vermutlich häufiger als man es sich wünschen möchte auf der Strecke bleiben dürfte. - Mögliche Alternativen werden auch hier von Herrn Nida-Rümelin gar nicht erst in Erwägung gezogen, obwohl es mit Sicherheit auch andere Möglichkeiten gäbe, Beruf und Familie (bzw. Kinder) zu verbinden, ohne dass es zu einer Spaltung von Kindern und Erwachsen kommt. Richtig ist, dass Kinder Kontakt zu anderen Kindern brauchen und auch suchen - und angesichts schrumpfender Geburtenzahlen sowie der wachsenden Zahl von Einzelkindern und Alleinerziehern, dieser Kontakt oft nur noch außerhalb der Familien herzustellen ist. Zu bedenken bleibt aber, dass in den meisten Ganztagseinrichtungen die Kontakte weitgehend auf Gleichaltrige, sowie die als Erzieher tätigen Erwachsenen beschränkt bleiben. Ferner sind die Beziehungen zu Erziehern nicht nur wegen der spezifischen und bereits angesprochenen Motivation (Gelderwerb) von anderen Beziehungen zu Erwachsenen verschieden, sondern u.U. auch durch häufigen Wechsel der Bezugspersonen, der nicht unbedingt schädlich sein muss, aber auch nicht von vornherein als Vorzug angesehen werden kann, gekennzeichnet. Ein weiterer Punkt ist, dass mit einer flächendeckenden Versorgung mit Krippen und Horten noch lange keine ebenso flächendeckend gleiche und hohe Qualität der Betreuung gewährleistet wäre.

Hier nun scheint es an der Zeit, auf die Spaltungen der Gesellschaft hinzuweisen, die Nida-Rümelin entweder gar nicht sieht oder - wenn doch - dann offenbar als unerheblich ansieht: die Spaltung der Generationen: Kinder in die Krippe, Erwachsene in die Fabrik, ins Büro oder in "Maßnahmen", Greise ins Altersheim, Psychische Kranke und andere Problemfälle ins Irrenhaus; Sozialkontakte mit ausschließlich gleichaltrigen oder gleich Versehrten sowie mit bezahltem Personal (hier also eigentlich: ökonomische Kontakte) - Das ist genau besehen nichts anderes als eine optimale Vermarktung von "Menschenmaterial"; von der Wiege bis zur Bahre: Mensch als Ware. Wenn sich schon aus der Arbeitsfähigkeit (weil noch nicht entwickelt oder bereits "verbraucht") kein Kapital schlagen lässt, dann soll offenbar wenigstens die "Zuwendung" noch Geld einbringen.

"Der deutsche Sozialstaat setzt generell in zu hohem Maße auf solche Transfers und in einem zu geringen Maße auf soziale Dienstleistungen. Der Öffentliche Dienst in Schweden umfasst dreimal so viele Personen wie in Deutschland (anteilig zur Bevölkerungszahl). Die Lohn- und Gehaltssumme von Angehörigen des Öffentlichen Dienstes beläuft sich in Deutschland auf 12, in Schweden auf 34 Prozent. Ein Ausbau der öffentlichen und sozialen Dienste ist daher die Antwort auf die sozialen Verwerfungen, die in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen haben."

Möglicherweise wäre auch in Schweden das Geld besser in die Selbständigkeit, Autarkie und die vielbeschworene "Selbstverantwortung" investiert. Aber nein - wie gehabt, das trägt ja nichts zum Sozialprodukt bei und würde so gar nicht den Erfordernissen der Marktwirtschaft entsprechen.

"Die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens würde die Fehlallokation potenzieren. Sehr viele, die keine Unterstützung benötigen, würden diese in Anspruch nehmen, während das Geld für Ganztagseinrichtungen und soziale Dienste weiter fehlte oder - dies geht jedenfalls aus vielen Verlautbarungen der Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens hervor - ganz gestrichen würde."

Hört, hört! nicht nur verstärken, sondern gleich potenzieren. Auf die Idee, dass wo alles Soziale über "Soziale Dienste" geregelt werden muss, ein genuines "Sozialleben" offenbar nur noch unzureichend oder gar nicht mehr stattfindet und dass man einer solchen Entwicklung gewiss nichts entgegen setzt, wenn man die Umstellung von (empathischen) Sozialbeziehungen auf (monetäre) Marktbeziehungen forciert betreibt, damit "das Soziale" nicht komplett den Bach runter geht, müsste man allerdings auch erst mal kommen - dazu scheint es bei Herrn Nida-Ruemelin freilich nicht zu reichen. Schade.

"Ich plädiere stattdessen für eine Erneuerung der Idee der Arbeitsgesellschaft. Es muss uns um die humane Gestaltung (gesetzlicher Mindestlohn, Arbeitsschutz, Kündigungsschutz, Arbeitszeitverkürzung und Arbeitszeitsouveränität) der Arbeit, die Selbstbestimmung (Arbeitnehmerrechte, Mitbestimmungsrechte) der Arbeitnehmerinnen, die Inklusion in die Arbeitsgesellschaft (Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und anderer Formen der Ausschließung) gehen, nicht um die Förderung des Ausstiegs aus der Arbeitsgesellschaft."

Inklusion: Na darauf haben wir gewartet: Inklusion in die alleinseligmachende (Zwangs-)Arbeitsgesellschaft. Wer dafür plädiert, der kann natürlich ein Grundeinkommen, dass ja gerade der Emanzipation von dieser Gesellschaftsform dienen soll, nicht befürworten (darauf dass Emanzipation und "Inklusion" oder "Integration" durchaus unverträgliche Begriffe sein können, wurde ja weiter oben bereits hingewiesen.)

"Wir sollten einen politischen, ökonomischen und sozialen Wandel organisieren, der den Frauen die gleichen Partizipationschancen im Arbeitsleben und unter gleichen Bedingungen öffnet und wir werden auch über die stärkere Integration der älteren Generationen jenseits des Ruhestandsalters in die Arbeitsgesellschaft der Zukunft reden müssen. Menschen leben in der Regel länger und besser, wenn sie in die Arbeitsgesellschaft auch in höherem Alter integriert bleiben."

Emanzipation bedeutet: etwas überwinden. Die ganze Emanzipation der Frau läuft aber bislang nicht auf Überwindung der durch das Patriarchat geschaffenen Strukturen hinaus, sondern lediglich auf deren Öffnung für das weibliche Geschlecht (bis auf weiteres bei etwas mieserer Bezahlung) und damit letztlich auf Ausweitung und Perpetuierung des Arbeitszwangs.

"Auf den Einwand, wie das denn angesichts des immer weiter zurückgehenden Arbeitsvolumens gehen soll, gibt es zwei Antworten, die sich kombinieren lassen: erstens eine tarifvertragliche und gesetzliche Strategie der Arbeitszeitverkürzung und zweitens das große Maß unbefriedigter kultureller und sozialer Interessen. Die Idee eines im großen und ganzen festen Potentials marktgängiger, das heißt nachfragerelevanter Interessen, die bei fortschreitender Rationalisierung mit einem immer geringeren Volumen an Arbeitszeit zu bewältigen sind, ist eine Chimäre.
Diesen Fundus gibt es nicht. Aber selbst wenn es ihn gäbe, könnte jeder gesamtwirtschaftliche Rationalisierungsgewinn durch eine korrespondierende Verkürzung des durchschnittlichen Arbeitsvolumens pro Kopf ohne Wohlstandseinbußen kompensiert werden."

Arbeitszeitverkürzung ist auch eine Form von Arbeitsreduktion und Arbeitsumverteilung - allerdings eine, die die Dominanz des Marktes unangetastet lässt und in der, die Arbeitenden nicht aus freien Stücken entscheiden können ob und wieviel sie arbeiten möchten. Dass man seine unbefriedigten sozialen und kulturellen Interessen evtl. auch außerhalb der Markt- und damit der Erwerbssphäre befriedigen könnte und dass manch einer das vielleicht auch will und diese Art der Befriedigung womöglich sogar als nachhaltiger oder tiefer empfindet und dass man seinen kulturellen Interessen womöglich dort am Meisten gerecht wird, wo man selbst Kultur produziert, kann sich der Kritiker offenbar nicht vorstellen, genausowenig, wie ihm der Gedanke, dass "Wohlstand" mehr als nur eine Frage der materiellen Versorgung sein könnte, allem Anschein nach nicht einmal ansatzweise in den Sinn kommt.

Alles in Allem: Änderungen ja - aber so, dass (strukturell) alles beim Alten, oben oben und unten unten bleibt. Also am liebsten nur solche Änderungen, die wirkliche Veränderungen auszuschließen geeignet sind.


Alle vorhandenen Artikel zum BGE anzeigen.

Nachtrag (15.06.2008)

Im Netz gefunden: pointierte Zusammenfassung des Aufsatzes.

2 Kommentare:

Anonym,  9. September 2008 um 13:32  

Eine feine Kritik eines ungewöhnlich schlechten Aufsatzes haben Sie geschrieben!

Ich habe diverse kritische Artikel zum "bedingungslosen Grundeinkommen", wie Götz Werner es vertritt, gelesen.
Aber keinen, der dermassen schlecht und unempirisch ist wie der Aufsatz von Nida-Rümelin.
Wenn Nida-Rümelin meint, Automatisierung und weniger (auf nicht unerträglichem Niveau, von dem niemand leben kann!) bezahlte Arbeit seien nicht bewiesen, hat er gute 20 Jahre verschlafen, und ich meine das nicht polemisch. Woher kommt der "Billiglohnsektor", in dem in USA, GB und Deutschland nun um die 25% arbeiten müssen??
Dass die Grundlagen des Konzepts an der Uni Karlsruhe erforscht werden, und dass es ein durchaus realistisches Konzept ist, verschweigt der Autor, wie so vieles.
Dass gerade viele Frauen von einem Grundeinkommen für alle profitieren würden, verschweigt er ebenfalls, um das "gender"-bonmot einführen zu können. Und sein Wunsch, eine "Erneuerung der Idee der Arbeitsgesellschaft", funktioniert seit 20 Jahren leider nicht. Nida-Rümelin wäre gut beraten, einmal in Bertrand Russell's "in praise of idleness" (1932, deutsch "Lob des Müßiggangs") das Beispiel mit der Herstellung von Nägeln zu lesen... So ist es gekommen - die weniger werdende Arbeit wurde nirgendwo "gerecht verteilt", sondern die Zahl der Arbeitslosen wuchs überall dramatisch, während wir uns einer extrem ungerechten Gesellschaft nähern...
Nida-Rümelin hat all das nicht verstanden, und wirklich den niveauärmsten Beitrag zum Thema geschrieben. Was er über "gender Spaltung" schreibt, ist fast schon infam. Er blendet alles aus, was ihm nicht passt...

Immerhin sind solche Artikel wie der des in edlen Worten sehr polemischen Autors, so unsäglich einseitig sie sind, dafür gut, alle Argumente genau zu prüfen.
Mir scheint, man sieht, dass neue Ideen auf die schon alte und drängende Frage, wie man die Verarmung eines Drittels der Gesellschaft verhindern möchte, noch sehr am Anfang sind. Zuerst geht es darum, überhaupt die Probleme zu erkennen. Soweit scheint Nida-Rümelin noch nicht gekommen zu sein...

Anonym,  17. September 2008 um 21:51  

Herdprämie für alleinstehende männer? Das ist doch nicht anti-emanzipatorisch! Herr Nida-Rümelin hat sich offensichtlich noch nie die mühe gemacht, mal im lexikon nachzuschauen, was das wort »emanzipation« bedeutet (kleiner tip: »zwangsarbeit, geschlechtsunabhängig« heißt es nicht).

Ist aber nicht weiter wundersam, herr Nida-Rümelin war kulturminister in der »kein-recht-auf-faulheit-regierung«. Zu jener zeit wurde beschlossen, im kulturerhaltenden bereich (mutmaßlich) tausende regulär bezahlter stellen zu streichen, die wenig später durch arbeitskräfte auf dem untersten lohnniveau ersetzt wurden.

Nida-Rümelins äußerungen sind nichts anderes als eine mit scheiße angefüllte denkblase eines menschen, der politik für die eigene kaste betreibt.

www.flickr.com


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