Mittwoch, 7. Oktober 2009

Zu Hartz IV und pseudoliberalem Bürgergeld

Der sogenannte Hartz IV Regelsatz orientiert sich am gesetzlich festgelegten sozio-kulturellen Existenzminimum. Diese Festlegung beruht aber keineswegs auf den tatsächlichen materiellen und gesellschaftlichen Verhältnissen und Existenzbedingungen, sondern erfolgte vor allem mit Blick auf haushalts- und wirtschaftspolitische Wünschbarkeiten. Die empirische Lebenswirklichkeit der Betroffenen spielt hier - wie übrigens in der gesamten Hartz-Gesetzgebung -, wenn überhaupt, dann eine "höheren" ökonomischen Interessen (nicht: Gegebenheiten) untergeordnete Rolle. Man könnte auch sagen, dass die Höhe des ALG II nach dem Grundsatz "Und wer nicht kommt zur rechten Zeit, muss nehmen das was übrig bleibt" festgelegt wurde. Die ökonomisch Abgehängten haben sich mit dem zu bescheiden, was dem Gewinnstreben der ökonomischen "Eliten" gerade noch entbehrlich erscheint. Die Fragwürdigkeit der Kriterien, nach denen der Eckregelsatz ermittelt wurde hier erschöpfend zu erörtern, mangelt es mir freilich an Zeit. Wer sich mit den Einzelheiten auseinandersetzen möchte, der folge den im Text enthaltenen Verweisen. Diskutiert werden soll hier vornehmlich die Aufgabe, die der Gesetzgeber den Grundsicherungen zuweist und die darin besteht,

„den Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht“. Es ist weitgehend unstrittig, dass mit der Bezeichnung eines menschenwürdigen Lebens die Deckung eines sozio-kulturellen Mindestbedarfs gemeint ist, was den Betroffenen eine gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen soll."

Quelle: Uni Köln, "Ordnungspolitischer Kommentar" (pdf)

Nun sind Formulierungen, wie die vom Gesetzgeber gewählte einigermaßen gummiartig. Was kann denn unter einem "Leben, das der Würde des Menschen entspricht" überhaupt verstanden werden?

Ein Leben, das der Würde des Menschen entspricht
Ich will es kurz machen: Man kann darunter verstehen, dass "der Leistungsberechtigte" in die Lage versetzt sein soll, in einer gegebenen Gesellschaft ein Leben zu führen, das nicht von vornherein dergestalt beschaffen ist (bzw. sein muss), dass es ihn zu einer gesellschaftlichen Randerscheinung, zu einem Paria degradiert. Eine Würde des Menschen "an sich" gibt es nicht, die Würde des Menschen findet ihren Ausdruck immer nur in der "Qualität" seiner gesellschaftlichen Beziehungen. Zur Würde des Menschen in einer (liberalen!) bürgerlichen Gesellschaft gehört die grundsätzliche Möglichkeit, eine bürgerliche Lebensweise zu pflegen und mit seinen Mitbürgern "auf Augenhöhe" zu verkehren. Und zwar auch dann, wenn er sich, aus welchen Gründen auch immer, von einzelnen Bereichen des bürgerlichen Daseins, wie z.B. dem "Erwerbsleben" (ob vorübergehend oder dauerhaft) ausgeschlossen findet. Vor allem aber bedeutet es, dass seine weiteren Grundrechte nicht angetastet werden.

Es reicht also nicht hin, dass die vielbeschworenen "menschlichen Grundbedürfnisse", die - wie ich an anderer Stelle dargelegt habe - ohnedies eigentlich die bloß animalischen Bedürfnisse des Menschen ausmachen, halbwegs hinreichend befriedigt werden. Der Begriff des sozio-kulturellen Existenzminimums schließt die Möglichkeit, sein Leben so zu leben, dass man nicht von vornherein und ungewollt als "Randexistenz" auffällt geradezu zwingend ein. Das bedeutet: Wenn ein Bedürftiger seinen Hunger bei der Tafel oder in einer Volksküche stillen muss, wenn er, um über die Runden zu kommen, seinen Lebensmittelbedarf ausschließlich beim Discounter decken muss, wenn er auf den regelmäßigen Bezug einer Tageszeitung verzichten muss, wenn er jede ihm angebotenen "Beschäftigungsmöglichkeit" akzeptieren und annehmen muss (damit er wenigstens "formal" arbeitet, auch wenn er dabei selbst innerlich verödet, sich in seiner Würde also beschädigt findet), dann ist entweder die Vorgabe des Gesetzgebers nicht erfüllt oder der Betroffene lebt in einer Gesellschaft, in der diese Vorgaben praktisch nicht gelten - mithin in keiner bürgerlichen Gesellschaft, jedenfalls in keiner, die diesen Namen verdienen würde.

Man kann es auch noch kürzer fassen: Ein Leben, das der Würde des Menschen entspricht ist eines, für das er sich, ohne es zu verantworten zu haben, vor einigermaßen humanistisch eingestellten Mitbürgern nicht schämen muss, und das andererseits nicht diese Mitbürger beschämen muss.

Es bedarf weder eines Thiessen, noch eines Sarrazin und deren Rechenkünsten, um zu erkennen, dass die bestehenden Regelungen der Sozialgesetzgebung einigermaßen ausreichen, die Arbeitslosen in diesem Land so zu versorgen, dass zumindest ihr unmittelbares Überleben nicht gefährdet ist. Immerhin müssen wir (noch) nicht davon hören oder lesen, dass massenhaft Arbeitslose dem Tod durch Verhungern oder erfrieren anheim gefallen sind. Andererseits weiß man an zuständiger Stelle aber ganz genau, dass die Transferleistungen für ein als "menschenwürdig" zu bezeichnendes Leben" bei weitem nicht ausreichen - und offenbar auch gar nicht ausreichen sollen:

Das Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit hält die größte und umstrittenste Arbeitsmarktreform in Deutschland für einen Erfolg. Heinrich Alt, der für die 6,8 Millionen Hartz-IV-Empfänger zuständig ist, lehnt höhere Regelsätze ab: "351 € reichen nicht dauerhaft zum Leben. Aber das soll auch kein Mensch. Die Menschen sollen mit uns einen Weg zurück ins Arbeitsleben finden. Das soll der Anreiz sein und ist es auch für fast alle", sagt der Arbeitsmarktexperte.
Mehr dazu.

Hartz IV im Quadrat: FDP und "Liberales Bürgergeld"
Guido Westerwelle sang nicht nur im Wahlkampf oft und gerne das Loblied der "Fleißigen" und schmähte zugleich nach Kräften die "Faulen". Die Fleißigen sind ihm dabei alle die, die ihre Arbeitskraft "erfolgreich" als Ware feilbieten und Waren produzieren (die den Karren ziehen, die morgens um sechs aufstehen und zur Arbeit gehen, die "Mittelschicht", das Maß aller Dinge, das Mittelmaß), die Faulen sind diejenigen, die das - aus welchen Gründen auch immer - nicht tun oder nicht tun können. Dabei spielt die tatsächliche Produktivität der einzelnen "Mitglieder" dieser Gruppen gar keine Rolle. Faulheit verwirklicht sich aber gerade im Prozess der Warenproduktion ("Wer Arbeit kennt hat und sich nicht drückt, der ist verrückt.") auf das Vortrefflichste. Wer das organisierte Arbeitsleben aus eigener Erfahrung kennt und nicht mit völliger Blindheit geschlagen ist, der weiß längst, dass ein Großteil der bezahlten Arbeitszeit darauf verwendet wird, sich die Arbeit leicht zu machen, d.h. sie sich möglichst vom Halse zu halten und anderen aufzubürden (schon, um besser für das eigene berufliche "Weiterkommen" sorgen zu können) - was ja ohnehin das Grundprinzip der kapitalistischen Wirtschaftsweise zu sein scheint: Gewinn erzielt man nicht durch unablässige, "fleißige" Arbeit - jedenfalls nicht durch die je eigene, denn dann wären die Gewinne keine Gewinne, sondern Löhne. Andererseits wird jede Menge Arbeit verrichtet, deren Produkt nicht als Ware auf den Markt geworfen wird, die also unbezahlt bleibt. Jeder Mensch der einen Familienhaushalt führt und/oder Kinder aufzieht, weiß ein Lied davon zu singen und mancher blogger, der mitunter stundenlang an diesem oder jenem Artikel arbeitet, sicher auch. Ferner kann man den "Fleiß" und die Produktivität nicht an äußerer Aktivität erkennen. Auch wer vor der Arbeit wegläuft, bewegt sich ja ordentlich, andererseits gibt es Menschen die im Zustand scheinbarer Passivität verharrend, hart arbeiten: Schriftsteller, Wissenschaftler oder auch Künstler.

Ich habe immer gefunden, daß es gar keine Arbeit gibt, die nicht geistig wäre oder nicht wenigstens geistig betrieben werden könnte, und daß es keine "geistige" Arbeit gibt, die nicht zugleich mit körperlicher Anstrengung verbunden wäre. Leistet wirklich der Amtsrichter, der beispielsweise Ehescheidungsprozesse zu erledigen hat und Tag für Tag ein Paar nach dem anderen nach Paragraph 165ff. BGB auseinander einigt, höhere Geistesarbeit als ein erfinderischer Feinmechaniker, der unausgesetzt mit den verschiedenartigsten, subtilsten Gebilden zu tun hat? Und ist die Arbeit eines Arztes, der seine Finger in alle Öffnungen fremder menschlicher Körper zu legen hat, keine körperliche? Verlangt der Anspruch an den Schuster, daß der Stiefel der Form des Fußes genau angepasst sein soll, daß er zierlich geformt und nirgends drückend sei, keine geistige Anstrengung? Und sind die verdorbenen Augen und der Schreibkrampf des Literaten, die krumme Haltung und die Hämorrhoiden des Germanisten nicht deutliche Beweise seiner körperlichen Leistungen? Selbst der Kloakenreiniger kann aus seiner Beschäftigung geistige Befriedigung schöpfen, wenn es ihm gelingt, die Arbeit unter möglichster Vermeidung von Gestank zu verrichten und dadurch den Dank seiner Mitmenschen zu verdienen und die eigene Gesundheit zu schonen. Umgekehrt kann manch "geistiger Arbeiter", wie ein Pfarrer, der nie über das auswendig gelernte Pensum denkt, oder ein Trichinenbeschauer, der mechanisch einen Schinken nach dem anderen untersucht, ohne sich über das Erwerbsinteresse hinaus dafür zu interessieren, seine Tätigkeit völlig entgeistigen. Den "Rat geistiger Arbeiter" werden diese Herren dennoch zieren. Denn hier gilt es ja zu zeigen, dass man etwas Besseres ist als Schuster oder Maurer.
Erich Mühsam. Ausgewählte Werke Band 2. Publizistik, Unpolitische Erinnerungen. Verlag Volk und Welt. Berlin 1978. S.341.

Die Hartz IV Gesetze erfüllen ihre eigenen Vorgaben nicht einmal annähernd. Dabei sind die (zu?) niedrigen Regelsätze m.E. beinahe das geringste Problem. Schwerer wiegt in meinen Augen, die durch die Randbedingungen erzeugte Entwürdigung und Entmündigung der Betroffenen. Hier zeigt sich: Hartz IV ist in allererster Linie ein Disziplinierungs- (Um-)Erziehungs- und Kontroll"instrument" und erst dann eine Einrichtung zur materiellen (Grund-)Sicherung derjenigen, die weder über Einkommen noch Vermögen verfügen. Eines der erklärten Ziele der Hartz-Gesetzgebung ist das Eindämmen der Schwarzarbeit, die angeblich einen Umfang von 350 Milliarden Euro per anno angenommen haben soll. Eine völlig abstruse Annahme. Wären nämlich tatsächlich die Arbeitslosen als Schwarzarbeiter dermaßen aktiv, dann würde - bei geschätzten 3,5 Millionen Erwerbslosen - jeder von ihnen im Schnitt jährlich 100.000 Euro "nebenbei" verdienen.

Man bilde sich nicht ein, dass das sogenannte "Liberale Bürgergeld", der Lage der Betroffenen in irgend einer Weise gerechter werden könnte. Viel eher scheint mir das Gegenteil der Fall zu sein. Zum einen ist mit noch rigideren Sanktionen zu rechnen zum anderen ist eines der erklärten Ziele (das in der Mainstreampresse freilich meist unter den Tisch fällt) dieses "Bürgergeldes", die weitere Ausdehnung des Niedrigstlohnbereichs mittels im "Bürgergeld" versteckter Subventionen gerade an die größten Aasgeier unter den "Arbeitgebern".

Das Bürgergeld wirkt wie dargestellt aktivierend durch richtige Anreize auf der einen und Sanktionen auf der anderen Seite. Die Sanktionsmechanismen müssen konsequent angewendet werden, nicht zuletzt auch zum Schutze des Steuerzahlers und zur Bekämpfung von Schwarzarbeit. Deshalb wird die Pauschale für den Lebensunterhalt um bis zu 30% gekürzt, wenn angebotene zumutbare Arbeit abgelehnt wird. Eine weitere Ablehnung zieht die gleiche Rechtsfolge nach sich, so dass die tatsächliche Kürzung bei Arbeitsverweigerung erheblich höher liegen kann.

Durch das Bürgergeld wird die Nachfrage und damit das Angebot an Arbeitsplätzen im Niedriglohnbereich gesteigert: Aus Sicht des Arbeitnehmers wird ein für ihn nicht existenzsichernder Lohn durch das Bürgergeld ergänzt und somit attraktiv. Arbeitgeber werden - die notwendige Lohnöffnung der Tarife vorausgesetzt - vermehrt Arbeit für nicht oder gering qualifizierte Bürgergeldempfänger anbieten, deren Arbeitskraft eine nicht existenzsichernde Wertschöpfung hat.
Quelle: FDP / Abschlussbericht Bürgergeld (pdf)

Der Unterschied: wird bei Hartz IV "nur" der Eckregelsatz gekürzt, so beim Bürgergeld die Gesamtsumme, also auch die Pauschale für die Mietkosten. Geht man von einer Bürgergeldpauschale von 650 Euro aus, dann betrüge der Kürzungsbetrag 195,-- Euro. Dem Betroffenen blieben also ganze 455 Euro um seinen gesamten Lebensunterhalt zu bestreiten. Bei Hartz IV hingegen beträgt die entsprechende Kürzung 30% des Regelsatzes: also bei einem Alleinstehenden 105 Euro. Die Härte der Sanktionen würde somit fast verdoppelt.

Ergänzung: Die Bedürftigkeitsprüfung und die Auszahlung des Bürgergeldes sollen die Finanzämter übernehmen. Bei Geringstverdienern soll die Zahlung über den Arbeitgeber laufen und mit dem Lohn ausgezahlt werden. Abgesehen davon, dass es den Arbeitgeber wohl einen Scheixx angeht, was sein Personal an Sozialleistungen bezieht, schießt sich die FDP hier auch als angebliche Anti-Schnüffel und Bürgerrechtspartei von hinten durch die Brust ins Auge. Mit einiger Sicherheit werden obendrein die Zumwinkels dieser Republik allerhand Grund zur Freude haben, wenn massenhaft Steuerfahnder zu Bedürftigkeitsprüfern umqualifiziert werden müssen. /Ergänzung

Die Arroganz derjenigen, die in diesem Lande das Sagen haben scheint grenzenlos. In diversen Talkrunden hocken Leute, deren jeweilige monatliche Pro-Kopf-Einkünfte locker ein Vielfaches dessen betragen, was sie einer vierköpfigen "Hartz IV Familie" so gerade noch zubilligen würden und finden es unverschämt, wenn ein lausiger "Minderqualifizierter" es wagt, einen gerade existenzsichernden Mindestlohn für seine Arbeit zu fordern. Eine Lohnarbeit, die keine "existenzsichernde Wertschöpfung hat" gibt es indes gar nicht. Denn entweder ist ein Unternehmen auf die Arbeit aller seiner Beschäftigten angewiesen um überhaupt eine "Wertschöpfung" zu realisieren oder es "leistet" sich Arbeitnehmer, die es nicht benötigt. Das wäre dann aber nicht der Fehler der Beschäftigten, sondern der Fehler der Unternehmensführung - aber deren Saläre sind ja unantastbar.

Ergänzung:
  • Jeder Bürger muss durch Arbeit ein höheres Einkommen erzielen können als wenn er nicht arbeitet (Leistungsprinzip).
  • Wer staatliche Leistungen in Anspruch nimmt muss auch zu einer zumutbaren Gegenleistung bereit sein (Solidaritätsprinzip).
  • Der Sozialstaat muss den Schwachen wirksam helfen und darf von Findigen und Faulen nicht ausgenutzt werden (Prinzip der Transparenz und Zielgenauigkeit).
Quelle: FDP / Abschlussbericht Bürgergeld (pdf)

Erstens: Wer als arbeitender Mensch Hartz IV oder Bürgergeld bezieht, erzielt eben nicht "durch Arbeit ein höheres Einkommen".
Zweitens: Das, was hier "Solidaritätsprinzip" genannt wird, hat mit Solidarität rein gar nichts nichts zu tun, sondern ist nichts anderes als das Marktprinzip.
Drittens: die "Findigen und Faulen" - ich nehme mal an, dass man hier an gewisse findige Bankmenschen ganz sicher nicht gedacht haben wird. /Ergänzung

Auch das "Konzept" der Bedarfsgemeinschaften soll beim Bürgergeld beibehalten werden. Auf der einen Seite wird allseits das Individuum gepriesen und von dessen "Eigenverantwortlichkeit" gefaselt, auf der anderen Seite hat man nicht die geringsten Hemmungen die "freien Individuen", wenn man sie nur schwach genug findet im Elend ins Kollektiv zu zwingen, das man dann "Bedarfsgemeinschaft" nennt.

Dabei hätte ich noch nicht einmal Einwände gegen eine pauschalierte Grundversorgung, nicht einmal in der genannten niedrigen Höhe. Das könnte durchaus einiges vereinfachen. Aber damit müssten a) die "Bedarfsgemeinschaften wegfallen, der Anspruch also ein rein individuell, persönlicher sein, und b) müsste ggf. ergänzendes Wohngeld, sowie ggf. andere Beihilfen (für chronisch Kranke etc.) beantragt werden können. Außerdem hat sich das Konzept der regionalen JobCenter und ArGen meiner Ansicht nach in keiner Weise bewährt. Doch ebenso wie bei den Hartz Gesetzen ist beim Bürgergeldentwurf davon die Rede, dass die jeweilige Regelung wegen der regionalen Abwicklung "bürgernah" sei.

Die Betreuung der Bürgergeldempfänger erfolgt dort, wo der notwendige persönliche Kontakt gewährleistet werden kann: auf kommunaler Ebene.
[...]
Insbesondere für Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte ist es wichtig, dass die vermittelnde Stelle die größtmögliche Nähe zu den vermittelnden Arbeitslosen und den örtlichen Gegebenheiten des Arbeitsmarktes hat.
Quelle: FDP / Abschlussbericht Bürgergeld (pdf)

Das ist Traumtänzerei. Im Laufe von drei Jahren habe ich von meinem JobCenter exakt einen konkreten Vermittlungsvorschlag (Aktensortieren im Auftrag einer Leiharbeitsfirma für satte 1.300 Euro brutto bei Vollzeit) bekommen und einen zweiten aus der Brandenburger Pampa über die Datenbank der Arbeitsagentur; da hieß es: Führerschein und eigener PKW zwingend erforderlich. Leider besitze ich aber beides nicht, was meinem in der Datenbank hinterlegten Profil auch unschwer hätte entnommen werden können. Dafür gab es reichlich Angebote an irgendwelchen Maßnahmen teilzunehmen, deren Hauptzweck vermutlich darin besteht den zahllosen sog. "Bildungsträgern" satte Einkünfte zu sichern. Gelernt wird in solchen Maßnahmen mehrheitlich nichts. Darum geht es aber auch nicht. Wichtig ist, dass der "Betreuungsfall" daran gewöhnt bleibt "morgens früh aufzustehen" und sein Dasein weitgehend fremdbestimmt zu fristen. Es kommt übrigens nicht selten vor, dass man als erstes gefragt wird, ob man einen "Vermittlungsgutschein" besitze; so mancher Dozent betreibt nämlich nebenher seine eigene private Arbeitsvermittlung. Im Angebot: Niedrigstlohnjobs und Zeitarbeit. Was den persönlichen Kontakt angeht: in dieser Zeit waren insgesamt fünf verschiedene Sachbearbeiter für mich zuständig, von denen ich allerdings nur vieren persönlich begegnet bin.

Vorwärts in die Vergangenheit?
Während die Zahl der erwerbstätigen Menschen im vergangenen Jahr mit 40,84 Millionen einen Höchststand erreichte, wurden gleichzeitig offiziell ca. 3,5 Millionen Menschen als arbeitsuchend geführt. Das scheint mir zu bestätigen, was Günther Anders bereits 1977 schrieb:

Mindestens ebenso fundamental wie die durch die Automation verursachte Revolution ist diejenige, die darin besteht, daß heute Mittel und Zweck ausgetauscht sind. Daß die zwei Umwälzungen nur Faktoren einer einzigen sind, wird sich schnell herausstellen. Zwar trifft es natürlich auch heute noch zu, daß der Einzelne sein Arbeiten als Mittel (zum Kauf von Lebensmitteln im weitesten Sinne) einsetzt. Aber während früher das Ziel der Arbeit darin bestanden hatte, Bedürfnisse durch Erzeugung von Produkten zu befriedigen, zielt heute das Bedürfnis auf Arbeitsplätze; Arbeitsbeschaffung wird zur Aufgabe, Arbeit selbst wird zum herzustellenden Produkt. Zum Ziel, das allein dadurch erreicht werden kann, daß Zwischenprodukte erzeugt werden. Diese neuen Produkte heißen "neue Bedürfnisse", die vermittels einer Arbeit, die "Werbung" heißt hergestellt werden. Sind diese Bedürfnisse erzeugt, dann ist auch neue Arbeit als Endprodukt erfordert und ermöglicht.
Günther Anders. Die Antiquiertheit des Menschen 2. Verlag C. H. Beck. München 1992. S.99.

Insgesamt läuft die Entwicklung ganz offensichtlich darauf hinaus, möglichst viele Menschen für möglichst geringe Entlohnung arbeiten zu lassen. Gestützt wird diese Strategie m. E. selbst durch scheinbar soziale Einrichtungen wie kostenlose Kindergartenplätze. Zum einen werden hier (natürlich schlecht bezahlte) Arbeitsplätze geschaffen, zum anderen werden weitere Arbeitskräfte mobilisiert. Genau betrachtet ist auch das eine versteckte Subvention. Denn statt die Lohnarbeit der Eltern oder Alleinerziehenden so zu vergüten, dass sie aus eigener Kraft durch die (doppelte) Berufstätigkeit sowohl selbst die Betreuung ihrer Kinder finanzieren als auch ein gewisses surplus erwirtschaften können, nötigt man sprichwörtlich jeden, irgendeinen mies bezahlten Job anzunehmen und "erleichtert" ihm dieses, indem man den Kindergartenbesuch praktisch zur Pflicht macht, und so ist der von der Last der Erziehung Befreite in die glückliche Lage versetzt, jede "angebotene zumutbare Arbeit" annehmen zu müssen dürfen.


Watch Die Lohnsklaven - Was ist Arbeit in Deutschland wert in Bildung | View More Free Videos Online at Veoh.com
Weitere Clips zum Thema finden sich hier: Alle an die Arbeit! (23.08.2009)


Am Ende zeigt sich, dass Marx mit dem, was er 1844 in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten als ein "gegenwärtiges Faktum" beschrieben hat, auch heute noch auf der Höhe der Zeit sein dürfte:
Der Arbeiter wird um so ärmer, je mehr Reichtum er produziert, je mehr seine Produktion an Macht und Umfang zunimmt. Der Arbeiter wird eine um so wohlfeilere Ware, je mehr Waren er schafft. Mit der Verwertung der Sachenwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu. Die Arbeit produziert nicht nur Waren, sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware, und zwar in dem Verhältnis, in welchem sie überhaupt Waren produziert.
Karl Marx. Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844). MEW 42 (Ergänzungsband. Erster Teil). Dietz Verlag. Berlin 1968. S. 511.

Und weiter:

Worin besteht nun die Entfremdung des Arbeiters?

Erstens, daß die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d.h. nicht zu seinem Wesen gehört, daß er sich in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit. Sie ist nur ein Mittel um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen. Ihre Fremdheit tritt darin rein hervor, dass, sobald kein physischer oder sonstiger Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird. Die äußerliche Arbeit, in welcher der Mensch sich entäußert, ist eine Arbeit der Selbstaufopferung, der Kasteiung. endlich erscheint die Äußerlichkeit der Arbeit für den Arbeiter darin, daß sie nicht sein eigen, sondern eines andern ist, daß sie nicht ihm gehört, dass er in ihr nicht sich selbst, sondern einem andern gehört. Wie in der Religion die Selbsttätigkeit der menschlichen Phantasie, des menschlichen Hirns und des menschlichen Herzens unabhängig vom Individuum, d.h. als eine fremde, göttliche oder teuflische Tätigkeit, auf es wirkt, so ist die Tätigkeit des Arbeiters nicht seine Selbsttätigkeit. Sie gehört einem andren, sie ist der Verlust seiner selbst.

Es kömmt daher zu dem Resultat, daß der Mensch (der Arbeiter) nur mehr in seinen tierischen Funktionen, Essen, Trinken und Zeugen, höchstens noch Wohnung, Schmuck etc., sich als freitätig fühlt und in seinen menschlichen Funktionen nur mehr als Tier. Das Tierische wird das Menschliche und das Menschliche das Tierische.

Essen, Trinken und Zeugen etc. sind zwar auch echt menschliche Funktionen. In der Abstraktion aber, die sie von dem übrigen Umkreis menschlicher Tätigkeit trennt und zu letzten und alleinigen Endzwecken macht, sind sie tierisch.
Karl Marx. Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844). MEW 42 (Ergänzungsband. Erster Teil). Dietz Verlag. Berlin 1968. S. 514f.


Anmerkung: Dieser Beitrag wird möglicherweise noch einmal überarbeitet (werden müssen).
;-)

Nachträge:
Ein langer Text, und trotzdem sind bei weitem nicht alle Aspekte des "Liberalen Bürgergeldes" hinreichend "gewürdigt" worden:
chefarztfraulicher:beobachter bemerkte am 07.10.2009::
Da das liberale Bürgergeld-Konzept nicht nur vorsätzlich Arbeitslose aktivieren soll, sondern auch die Grundsicherung für EU- und Minirentnerinnen, chronisch Kranke und andere Erwerbsunfähige wäre, stellt sich die Frage, wie denn diese Leute den überlebens- notwendigen Zusatzverdienst erzielen könnten? Eben. Den Restmenschen droht also Obdachlosigkeit, Suppenküche und Dritterklasse-Medizin. Bravo Herr Pinkwart.

By the way: Die Motivations-Möglichkeiten für ALG-2-Empfänger verstoßen bereits heute gegen internationale Vereinbarungen: Die Bundesrepublik Deutschland ist nämlich Unterzeichnerin der ILO-Abkommens 29. Nach Artikel 2 ist jede Art von Arbeit, die unter Strafandrohung angeordnet wird, als Zwangsarbeit definiert und verboten.

Es würde übrigens auch das Bafög ersetzten - und nach allem was mir bekannt ist, wären Studenten dann die "Reformgewinner", sie bekämen ein paar Euro mehr und müssten nichts zurückzahlen. Außerdem hätten sie keinen Grund mehr sich wegen unbezahlter Praktika aufzuregen. Das wäre jedenfalls, soweit ich es übersehen kann, die Konsequenz. Wenn also demnächst Euer Kumpel, der wo BWL studiert, Stein und Bein auf die FDP und ihr Bürgergeld schwört, müsst ihr Euch nicht weiter wundern ...
;-)

nebenbei bemerkt ... Bei Hartz IV landet man u.U. schneller, als man es für möglich halten möchte, siehe: Ran an die Bouletten?

Der Nachfrage wegen: Hier gibt es ein paar Clips zur Illustration des Ganzen.

Lesen Sie zu diesem Thema auch:
Ein paar Worte zu Hartz IV Repressionen, Eckregelsatz und Mindestlohn (01.10.2009)

7 Kommentare:

landbewohner 7. Oktober 2009 um 09:28  

doch - total guter beitrag

Anonym,  7. Oktober 2009 um 12:58  

Wenn überhaupt überarbeiten (was aus meiner Sicht nicht nötig ist), dann nur noch mit ein paar illustrierenden Links versehen...

z.B.
http://www.youtube.com//watch?v=9XFFV9rb5w8

http://www.youtube.com/watch?v=6G42fU8Vsn4

http://www.youtube.com/watch?v=MtLqFUj-nGw

Bestätigen doch solche Dokumentationen, wohin die Reise geht. In dieser Richtung passt der Beitrag wie die sprichwörtliche Faust...

Ralf

Kurt aka Roger Beathacker 7. Oktober 2009 um 13:24  

@ Ralf: Danke fuer den Hinweis. Sowohl die nachgefragten als auch weitere Illustrationen finden sich uebrigens in diesem Artikel.

G. G.,  7. Oktober 2009 um 18:38  

Jetzt verstehe ich, was es mit dem Bürgergeld auf sich hat. Vielen Dank für die klaren und verständlichen Worte.

Geheimrätin im Exil,  7. Oktober 2009 um 21:15  

worst case scenario! What to do about it?! mir ist nur noch schlecht. Das schlimme ist, dass wenn das wirklich realisiert wird, die Opfer - arbeitslose, alte und kranke Menschen, bald gar keine Kraft mehr haben, sich zu wehren. Bislang wurde so gut wie keine Widerstand geleistet (an der Masse der Verelendeten gemessen)Von daher glaube ich leider kaum, an die therapeutische Wirkung eines worst case scenario. Und von denjenigen, die meinen, ihr Schäfchen im Trockenen zu haben, darf wohl auch Widerstand erwartet werden. Zumindestens solange nicht, wie das Wort Solidarität durch Leistungsträger verdrängt wird. Eine ratlose ehemalige Geheimrätin im Exil

Tim,  8. Oktober 2009 um 03:26  

Der einzige Unterschied zwischen Hartz IV und liebralem Bürgergeld scheint mir die Höhe der Leistungen zu sein. Wenn beim Bürgergeld sämtliche Leistungen zu einem Betrag von 6XX € zusammengefasst werden, dann muss man kein Mathematik-Genie sein, um zu merken, dass das nichts anderes als eine Leistungskürzung ist. Im Grunde genau das Gleiche wie beim Grundeinkommen-Modell von Dieter Althaus...

Vogel,  11. Oktober 2009 um 00:37  

Bis hierhin dachte ich mir: „Naja … Sowohl als auch … da iss durchaus ’was dran“ – aber dann:
Faulheit verwirklicht sich aber gerade im Prozess der Warenproduktion ("Wer Arbeit kennt hat und sich nicht drückt, der ist verrückt.") auf das Vortrefflichste. Wer das organisierte Arbeitsleben aus eigener Erfahrung kennt und nicht mit völliger Blindheit geschlagen ist, der weiß längst, dass ein Großteil der bezahlten Arbeitszeit darauf verwendet wird, sich die Arbeit leicht zu machen, d.h. sie sich möglichst vom Halse zu halten und anderen aufzubürden (schon, um besser für das eigene berufliche "Weiterkommen" sorgen zu können)

Selbst immer wieder erlebt – nie wahrgenommen!! Schön formuliert.

Ich setz’ noch einen drauf: Sind beides nich Menschen? Sowohl die Einen als auch die Anderen – die „Hartzies“ und die „Nichthartzies“? Sowohl die Kollegen Arbeiter als auch die Kollegen Drückeberger? Wieso soll da Einer rechter haben als ein Anderer(gilt natürlich vice versa!)?

Wir können uns beblogen bis wir schwarz werden. Was machen wir? Es iss einiges faul im Staate Dänemark! Wie werden wir das ändern? Gibt’s konkrete Ideen?

Habt ihr wenigestens alle die Petition gezeichnet und Eure eigenen Mehl-Äktschen laufen? Wie? Keine Zeit gehabt? Gilt nich: Jeder hat 24 h, jeden Tag, fragt sich was ihm wichtig ist …

Wäre schön, ich fänd’ irgendwo ’nen Bericht über ’ne erfolgreiche Aktion – unn nich nur vom Vogel.


Beste Grüße

www.flickr.com


Twingly BlogRank Blog Button blog-o-rama.de Bloggeramt.de Blog Top Liste - by TopBlogs.de blogoscoop Blogverzeichnis Blogverzeichnis - Blog Verzeichnis bloggerei.de RSS Newsfeeds Verzeichnis RSS-Scout - suchen und finden BlogPingR.de - Blog Ping-Dienst, Blogmonitor Directory of Politics Blogs frisch gebloggt Blogkatalog Bloggernetz - der deutschsprachige Pingdienst RSS Verzeichnis Blogverzeichnis Listiger Bloganzeiger Politics Blogs - Blog Top Sites Suchmaschinenoptimierung mit Ranking-Hits Verzeichnis für Blogs
Diese Seite ist dabei: Spamfrei suchen...

  © Blogger template Newspaper III by Ourblogtemplates.com 2008

Back to TOP