Montag, 21. September 2009

Mantrafahrer Westerwelle

"Ich will Ihnen die Zahlen noch einmal nennen, weil sie auch für unsere Zuschauer wichtig sind: Die oberen 50 Prozent der deutschen Steuerzahler erwirtschaften etwa 94 Prozent des gesamten Einkommensteueraufkommens der Republik. Sie belasten diejenigen, die den Karren ziehen, immer mehr. Ich sage Ihnen, wer dabei unter die Räder kommt: die Ärmsten der Armen, die Schwächsten der Schwachen. Die leiden unter Ihrer Politik."
Guido Westerwelle

Eine Lüge wird dadurch nicht wahrer, dass sie pausenlos wiederholt wird. Niemand weiß dieses vermutlich besser als der Lügende selbst. Die Lüge muss aber schon deshalb stets aufs neue ins Land geplärrt werden, damit die Wahrheit nicht zur Sprache kommt.

Das ist das Ergebnis einer atemberaubenden Mehrbelastung der Mitte unserer Gesellschaft bei Steuern und Abgaben. Statt nur über soziale Gerechtigkeit sollte mehr über Leistungsgerechtigkeit geredet werden. Dass mittlerweile 50 Prozent der Steuerzahler 94 Prozent des gesamten Einkommensteueraufkommens des Staates erarbeiten, wird immer wieder verschwiegen.
Quelle: Tagesspiegel

Die Hälfte aller Steuerzahler trägt etwa 94 Prozent der gesamten Einkommenssteuerlast. Wenn diese Mitte die Lust an Leistung verliert, dann leiden darunter die Schwächsten zuerst. Alles, was verteilt werden soll, muss vorher von jemandem erarbeitet werden. Wer verhindert, dass sich Anstrengung lohnt, wer verhindert, dass Fleiß sich auszahlt, wer die Leistungsgerechtigkeit abschafft, der wird jede soziale Gerechtigkeit verlieren.
Quelle: FDP Elsdorf

Westerwelle: Keiner außer der FDP fragt: Was heißt das eigentlich für die Mittelschicht? Für jene 50 Prozent der Bürger, die übrigens 94 Prozent des Einkommensteueraufkommens erarbeiten? Die vergessene Mitte muss mehr Steuern und Abgaben zahlen, die Reallöhne sinken, sie muss immer mehr privat für das Alter vorsorgen – und mehr für die eigene Gesundheit und für die Bildung der Kinder bezahlen. Die Mittelschicht wird derzeit ausgepresst wie eine Zitrone.

SZ: Was ist das Gegenkonzept?

Westerwelle: Dass wir eine Politik betreiben, in der mehr Netto vom Brutto bleibt. Das wird ein Kernanliegen unseres Parteitags sein: ein niedrigeres, einfacheres und gerechteres Steuersystem zu verbinden mit sozialer Sicherheit für diejenigen, die kein oder zu wenig Glück im Leben haben. Das erreichen wir durch die Kombination mit dem Bürgergeld zu einem Steuer- und Sozialmodell aus einem Guss.
Quelle: Sueddeutsche Zeitung

Guido Westerwelle, Parteivorsitzender der FDP, sagt, 50 Prozent der Steuerzahler in Deutschland erwirtschaften 94 Prozent des gesamten Einkommensteueraufkommens des Staates. Stimmt das?

Christoph Lütge:
In der Größenordnung trifft das zu. Die Frage ist, was daraus folgt. Aus guten Gründen haben wir kein nach Steuerklassen gestaffeltes Wahlrecht. Allerdings kann es für eine Demokratie bedenklich werden, wenn sich große Teile der Bevölkerung politisch nicht mehr ausreichend repräsentiert sehen.
Quelle: "hart aber fair"

Der Kern dieser Lüge besteht in der Behauptung, dass diejenigen, die die Steuern zahlen, diese immer auch selbst vollumfänglich erwirtschaftet oder gar "erarbeitet" hätten. Löhne und Gehälter stehen eben nicht in proportionalem Verhältnis zur "wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit" der Gehaltsempfänger, sondern sind in erster Linie Ausdruck von Machtverhältnissen. Während der Inhaber eines Friseursalons oder einer Kette solcher Salons sich sehr wahrscheinlich zu jenen mysteriösen 50% derjenigen zählen darf, die nennenswerte Einkommensteuerbeträge an den Fiskus abführen, wird man seine Angestellten mehrheitlich ganz sicher der anderen - "nichtzahlenden" - Hälfte zuordnen müssen. Und in letzter Konsequenz sind es eben diese Angestellten, die auch die Steuern, die ihr Arbeitgeber zahlt, am Ende "erwirtschaftet", vor allem aber: erarbeitet haben.

Den Löwenanteil des Einkommenssteueraufkommens zahlen mithin nicht etwa diejenigen, "die den Karren ziehen", sondern vor allem wohl diejenigen, welche die eigentlichen Zugtiere, die zu einem wachsenden Anteil aus Geringstverdienern bestehen, anzutreiben wissen. Viele "fleißige" Einkommenssteuerzahler hingegen erwirtschaften im engeren Sinne gar nichts, oder worin bestünde etwa die unmittelbar wirtschaftliche Tätigkeit eines Abgeordneten?

Natürlich gibt es eine sehr einfache Möglichkeit, dieses Ungleichgewicht zu beseitigen und die Basis derjenigen, die als Zahlende maßgeblich zum Einkommensteueraufkommen beitragen, erheblich zu vergrößern: dazu müsste man einfach jede Arbeit so fair bezahlen, dass sie nicht nur das Existenzminimum sichert, sondern soviel abwirft, dass ein jeder der Lohnempfänger zum Einkommenssteuerzahler "aufsteigt". Ein erster Schritt zu dieser Form "ausgleichender Steuergerechtigkeit", wäre die Einführung eines mehr als existenzsichernden flächendeckenden Mindestlohnes.

Es liegt aber auf der Hand, dass die liberalen Strategen diese Option nicht befürworten können, sondern sie sogar aufs Schärfste bekämpfen müssen. Schon weil dieses schöne "Argument" sonst nicht länger verfügbar wäre.

Laut Statistischem Bundesamt verdienen Friseure durchschnittlich 1315 Euro brutto im Monat (Gesamtschnitt aller Berufe 3093 Euro, Tariflöhne siehe unten). Damit liegen sie am unteren Ende aller Berufe. Jeder Postbote, Wäscher oder Glasreiniger verdient erheblich mehr.

Der Grund für die Hungerlöhne: Trotz jahrelanger Forderungen gibt es immer noch keinen Mindestlohn für die Friseurbranche. Deshalb werden die Löhne geringverdienender Friseure (z.B. Friseure in Sachsen nur 600 Euro monatlich) mit Hartz4-Zuschüssen und Wohngeld aus Steuergeldern aufgestockt (siehe Grafik). Man kann z. B. bei Billigketten durchaus von einem "Haarschnitt auf Staatskosten" sprechen.
Quelle: hairweb

Die Friseurinnen und Friseure verdienen nicht wenig, weil sie wenig "leistungsfähig" wären, sondern weil man ihnen nicht mehr zubilligt und weil sie nicht über die Macht verfügen, ein leistungsgerechtes Einkommen für sich durchzusetzen.

Ein anderer wackliger Punkt an Westerwelles Mantra ist die Datenbasis. Woraus besteht eigentlich diese übelst belastete Hälfte von Einkommenssteuerhelden wirklich? Mal heißt es, sie bestünde aus "50 Prozent der deutschen Steuerzahler". Steuerzahler ist aber in diesem Land praktisch jeder, der irgendwo Geld ausgibt, auch als Kind, Greis oder Versehrter. Da die Erwerbsquote aber unter 50% liegt, kann Guidos These so jedenfalls nicht stimmen. Mein Gemüsehändler um die Ecke hat freilich (noch) keinen deutschen Pass, ist demnach zwar Steuerzahler, aber offenbar doch kein "deutscher Steuerzahler". Was nun? An anderer Stelle ist von "jene[n] 50 Prozent der Bürger" die Rede, was die Datenbasis noch einmal verändern müsste, nämlich um diejenigen, die selbst gar kein Geld ausgeben (können).

Westerwelles Parteifreund Solms drückt sich da zumindest scheinbar ein wenig präziser aus, wenn er nämlich sagt:

"In Deutschland tragen die obersten zehn Prozent der Einkommensbezieher mehr als 50 Prozent der Einkommensteueraufkommens und das untere Viertel der Einkommensbezieher zahlt gar keine Steuern. Es wird nach dem Prinzip der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit besteuert. Das Steuerrecht wirkt in ausreichendem Maße umverteilend. Eine weitere Steuerbelastung für höhere Einkommen wirkt leistungsfeindlich und belastet die mittelständische Wirtschaft beispielsweise bei der Möglichkeit, Eigenkapital zu bilden. Wer darüber hinaus weitere finanzielle Mittel zur Verfügung stellen möchte, dem stehen freiwillig vielfältige Möglichkeiten offen – über gemeinnützige Stiftungen um Beispiel."
Quelle: Hermann Otto Solms

Doch Stop! - Kindern von Hartz-IV-Empfängern wird bekanntlich das Kindergeld als Einkommen angerechnet. Und natürlich sind auch ALG I oder II, Renten usw. Einkommen. Was also ist denn nun wirklich die "Grundgesamtheit" derjenigen, die diese ominösen 50% ausmachen sollen?

Mich würde übrigens noch sehr interessieren, an wen Christoph Lütge wohl denkt, wenn er von "große[n] Teile[n] der Bevölkerung politisch nicht mehr ausreichend repräsentiert sehen" spricht. Aber das waere dann wohl ein anderes Thema.

Was mich bereits seit geraumer Zeit geärgert hat, ist der Umstand, dass Westerwelle dieses Mantra allerorten unverdrossen runterbeten darf, ohne dass jemals einer seiner Gesprächspartner oder Mitdiskutanten auf die Idee käme, es überhaupt auf seinen Gehalt zu prüfen. Was hiermit hoffentlich wenigstens einmal geschehen ist.

Von berlin by bike


Und noch ein Nachtrag - Da war doch noch was?:
Er will merkbar immer noch "die Mitte" hinter sich bringen - sonst hat man ja gerne mit den oberen 5% oder 10% der Steuerzahler argumentiert, wie man z.B. auf den Nachdenkseiten lesen kann: "Die oberen zehn Prozent der Steuerpflichtigen zahlten 2006 rund 57 Prozent der gesamten Einkommensteuereinnahmen des Bundes, wie die „Sächsische Zeitung“ unter Berufung auf die jüngsten Steuerstatistiken des Bundesfinanzministeriums berichtet. 2004 waren dies nur knapp 53 Prozent." - aber inzwischen muss man selbst bei den deutschen Deppen daruf gefasst sein, dass sie auf die Idee kommen, dann sogleich nach der Verteilung von Einkommen und Vermögen zu fragen und das zu Recht, denn wenn man das liest, dann ist die breite Mitte, so "unfair" behandelt nicht: es bleiben nämlich 40% "Mitte", die - na so ein Zufall - gerade 37% des Einkommenssteueraufkommens zu tragen haben. Der ist schon ein Fuchs, der Guido!
Quelle: Der Untergang des Abendprogrammes (blog-Artikel vom 30.05.2008)

Zum Weiterlesen:

Der feine Unterschied oder: Warum derjenige, der eine Steuer zahlt, nicht notwendigerweise auch derjenige ist, der sie trägt.

Ungleiche Gleichbehandlung


1 Kommentare:

Anonym,  21. September 2009 um 21:43  

Weiterer Nachtrag:
ern wird "behauptet, „zwanzig Prozent der so genannten Besserverdienenden tragen zwei Drittel des Haushalts“. Das ist schon deshalb falsch, weil der Anteil der direkten Steuern am gesamten Steueraufkommen (und damit auch am Haushalt) 2008 51,8% und der Anteil der indirekten Steuern 48,2% beträgt (siehe Daten des Bundesfinanzministeriums ). Die indirekten Steuern (z.B. die Mehrwertsteuer) treffen alle gleich. Dass die indirekten Steuern rund die Hälfte des Steueraufkommens ausmachen, wird schlicht ignoriert."
http://www.nachdenkseiten.de/wp-print.php?p=4163

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