Auf dem Nachweis für ungelernte Arbeiter des Bezirks Kreuzberg war ein unaufhörliches Kommen und Gehen. Im Hausflur stand dick und wichtig der Portier Langscheidt. Im dritten Stock wurde gestempelt, im vierten war der Aufenthalts und Arbeitsvermittlungsraum. Die Luft war überall stickig und verbraucht. Die Fenster waren nur in ihrem oberen Teil geöffnet.
[...]
"Heute wird's wohl keene Arbeit mehr geben, is ja schon elf Uhr."
"Sag mal, Gustav, hast Du schon mal gearbeitet?"
"Ick? Solange wie ick aus der Schule raus bin noch nich. Als Schulrabe ja. Ick wer wohl ooch keene mehr kriejen", sagte er ruhig. Und halb lachend, halb bedauernd fuhr er fort: "Und als ich zehn Jahre alt war, hat der Alte jesagt: 'Gustav, Du wirst mal Rechtsanwalt!' Heute bin ick zu Hause bloß noch det 'Sticke Mist'."
Kater kaute an einem Streichholz. "Det sin wir ja alle", sagte er so ganz nebenbei. "Aber laß man. Wern wir eben Verbrecher. Eeen andern Beruf jibts ja für uns nich mehr. Schade, daß Du nich Rechtsanwalt bist, da hätt ick een billigen Verteidiger ..."
Ein Mann mit schwarzer Hornbrille und schwarzem Lüsterjackett kam in den Saal. Alles sprang auf. Der Mann stellte sich auf das Podium und sah sich von oben die Leute an.
"Nu los doch Mensch! Laß uns nicht so lange warten!"
"Immer ruhig, junger Mann, nicht wahr?"
Die Erwerbslosen standen dichtgedrängt um ihn herum und sahen zu ihm auf wie zu einem Lehrer, der interessante Geschichten zu erzählen hat. Er begann laut:
"Zwei Mann Zettel verteilen, Speisehaus Friedrichstraße."
"Wieviel? Wieviel Mark die Stunde?"
"Das steht nicht bei. Jedenfalls handelt sich's um ein Speisehaus, und ein Mittagessen wird schon abfallen."
"Oho! Det kenn wir, det Mittagessen! Pellkartoffeln und Soße! da jeht keener hin!"
"Was wollen Sie denn schon wieder? Sie können doch die Leute nicht von der Arbeit abhalten! - Also los: Wer will hingehn? Lohn nach Vereinbarung."
Zwei alte Männer meldeten sich. Sie gaben ihre Stempelkarten ab und gingen still lächelnd fort. Spinne machte ein verächtliches Gesicht und stieß Gustav an: "Zettel verteiln! Det soll nu für unsereens Arbeet sin! Arbeitsburschenstellen kommen überhaupt nicht mehr raus. Dreck verfluchter!"
Jemand lachte ganz laut. Niemand drehte sich nach ihm um. Sechzig Erwerbslose warteten auf Arbeit. Aber keiner hatte Hoffnung. Der Mann mit der Brille tat immer wichtiger. Er wühlte geschäftig zwischen den Papieren in seiner Hand und kramte eine neue Vermittlungskarte vor. Es wurde wieder ruhig und die Augen der Wartenden wurden gespannt.
"Zwei Mann zum Teppichklopfen. Sie müssen das schon öfters gemacht haben. Stunde achtzig Pfennig. Es handelt sich um je zwei Stunden."
Zehn, zwölf Leute drängten sich zur Mitte hin und hielten ihre Karten in die Luft. "Hier!" - "Icke!" - "Icke!" ...
"Halt, nur zwei Mann. Wer ist länger als anderthalb Jahr arbeitslos?"
Das waren fast alle, die sich gemeldet hatten. Der Mann suchte zwei Junge Leute aus und empfahl ihnen, gleich hinzugehen: Großbeerenstraße 58, bei Frau Schnacke.
"Paß off det Jeld off, det aus die Teppiche fällt!" rief man den beiden nach.
Der Kreis um den Ausrufer wartete noch.
"Kommt denn heute noch wat raus?"
"Ja, das weiß ich nicht. Sie können ja warten. Sie haben ja so viel Zeit!"
"Du alter Tintenklohn, det denkste Dir ja bloß. Los, schwinge Deine Scheißständer un kiek nach, ob neue Arbeit da ist! ..."
"Denkst wohl, weil Du die Ruhe weg hast, haben wir ooch Zeit, wat? Ick muß noch nach de Wohlfahrt zum Kottbusser Damm!"
Enttäuscht schlich jeder zu seinem Platz zurück. Sie wurden ja immer enttäuscht. Immer und überall. Enttäuscht und gedemütigt.. Sie wurden herumgejagt mit nutzlosen Formularen, von einem Amt zum anderen, von Behörde zu Behörde. Manchmal nur wegen eines Stempels. Nur wenige murrten. Sie fraßen alles in sich hinein.
Walter Schönstedt. Arbeitslose (Aus: Kämpfende Jugend. 1932). in: Hans Magnus Enzensberger et. al. Klassenbuch 3. Ein Lesebuch zu den Klassenkämpfen in Deutschland 1920-1971. Luchterhand Verlag. Darmstadt und Neuwied 1973.
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3 Kommentare:
ich lese hier das wort von den klassenkämpfen (im titel des enzensberger-buches).
einen kampf könnte ich mir vorstellen, wenn es so wenig nahrung gäbe, die nur für einen reicht, aber zwei wollen überleben. daß hier ein kampf stattfindet, könnte ich noch nachvollziehen.
aber fakt heute ist, es wird von denen, die im reichtum schwelgen, ein kampf gegen die, die sie bereits zu armen gemacht haben, geführt. der kampf kommt von oben, er dient nicht dem überleben, sondern der steigerung des luxus bis ins unermessliche.
Gut getroffen!
Passt in die heutige Zeit, obwohl wir das Jahr 2009 schreiben.
Traurig und erschreckend!vronsal
Klassenkampf ist gut, die ganze Sache läuft ja wohl international-global ab. Die Amis haben ihre Finger über irgendwelche beratenden "Thinktanks" bis zum gehtnichtmehr in der deutschen Politik.
http://www.duckhome.de/tb/archives/6817-Karl-Theodor-Maria-Nikolaus-Johann-Jacob-Philipp-Franz-Joseph-Sylvester-Freiherr-von-und-zu-Guttenberg.html
Und speziell zu Guttenberg, unserem Wirtschaftsbaron, gibts auch noch das hier:
http://www.zeitgeist-online.de/special24.html
http://www.zeitgeist-online.de/special27.html
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