In der Berliner Zeitung vom 08.11. 2008 findet sich
ein Interview mit dem Soziologen und Inhaber des Lehrstuhls für Soziale Ungleichheit an der Uni Bielefeld,
Stefan Liebig.
Welche Möglichkeiten sehen Sie seitens der Politik, für mehr Gerechtigkeit in der Einkommensentwicklung zu sorgen?
Von besonders hoher Einkommensungerechtigkeit berichten die Beschäftigten in den unteren Einkommensgruppen. Will die Politik dies ändern, kann sie das durch Besteuerung und staatliche Unterstützungszahlungen.
Wer sehr wenig in seinem Job verdient, bekommt aber schon staatliche Hilfe in Form von Hartz-IV-Zahlungen.
Dieser Geldsegen verletzt ganz stark das Gerechtigkeitsgefühl der Betroffenen. Sie empfinden die Hilfen als Almosen, der ihnen von staatlicher Seite verdeutlicht, dass sie trotz Arbeit nicht in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen. Das ist besonders kränkend in einer Gesellschaft wie unserer, in der Leistung viel zählt. Besser wäre eine Lösung, bei der die Zulage an den Arbeitgeber gezahlt wird und dieser sie zusammen mit dem Lohn an die Mitarbeiter auszahlt.
Abgesehen von der schlichten Frechheit, die mickrigen Transfers gemäß Hartz IV als "Geldsegen" zu bezeichnen, sollte der Herr Professor sich vielleicht mal fragen, wer hier eigentlich die "Minderleistung" erbringt, wenn nicht der Unternehmer, der nicht in der Lage ist seinen Betrieb so zu führen, dass dieser für alle, die ihn durch ihre Arbeit am Laufen halten, ein ausreichendes Einkommen abwirft. Es ist nur allzu typisch, den "Geringverdiener" zugleich auch als "Geringleister" anzusehen (was ja schon durch dessen niedriges Einkommen belegt wird - ein klassischer Zirkel: er gilt als Geringleistender, weil er wenig verdient - und er verdient wenig, weil er wenig leistet) und ihm generöser Weise seine "Würde" zu retten, indem man ihm die Einsicht in die wahren Zusammenhänge vorenthält. Oder anders: die Tatsache, dass seine Leistung (und damit er selbst) seinem Arbeitgeber nichts wert ist dadurch zu verschleiern, dass man den "wahren" Wert, den er für das Unternehmen besitzt vor ihm verbirgt.
Dieses Spiel erinnert mich ein wenig an die Nibelungen: Siegfried (Staat) setzt sich die Tarnkappe ("Kombilohn") auf und überwindet im Auftrag Gunters (Wirtschaft), die sich sträubende
Brünhild (Niedrigstlohnempfänger) - nur dass ich vorerst keine Kriemhild ausmachen kann, die der hilfreiche Siegfried zum Dank dann freien dürfte.
Die Unternehmer tun allerdings gut daran, das "Gefühl", ungerecht bezahlt zu werden, gar nicht erst aufkommen zu lassen, damit würden sie nämlich ihren Profit (und damit ihre eigene Leistung?) schmälern:Ungerecht entlohnte Mitarbeiter holen sich das vom Unternehmen, was ihnen aus ihrer Sicht zusteht: Indem sie weniger Leistung bringen oder einfach Dinge aus dem Unternehmen mitnehmen, die sie brauchen können. Leistungsverweigerung, Diebstahl und erhöhter Krankenstand sind deshalb die Folgen. Deshalb ist es für Betriebe keine Frage der Moral, ob sie den Gerechtigkeitsempfindungen ihrer Mitarbeiter entgegenkommen, sondern es empfiehlt sich aus rein ökonomischen Überlegungen.
Wenn das wahr wäre - nämlich dass
ungerecht entlohnte und nicht nur
sich ungerecht entlohnt fühlende Arbeitnehmer
"einfach Dinge aus dem Unternehmen mitnehmen, die sie brauchen können" - dann hätte so manche Firma wohl längst schon den Betrieb einstellen müssen ...
Was man aus der Berliner Zeitung nicht erfährt,
Wikipedia aber ans Licht bringt: Stefan Liebig ist
"[s]eit April 2007 [...] zugleich Forschungsprofessor am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin." Dort kann man sich übrigens auch eine 42 Seiten starke Studie des Professors mit dem Titel "
Gerechtigkeitsprobleme im Wohlfahrtsstaat: Besteuerung, wohlfahrtsstaatliche Transfers und die Gerechtigkeit des eigenen Erwerbseinkommens" als pdf herunterladen. Dortselbst ist dann zu lesen:
Das Ziel besteht neben der bestmöglichen Sicherstellung von Startchancengerechtigkeit auch in der Realisierung der Bedarfsgerechtigkeit im Sinne einer minimalen oder "angemessenen" Deckung von Grundbedürfnissen. Die gewõhrten wohlfahrtsstaatlichen Leistungen - sofern sie nicht strikt beitragsfinanziert sind - sind nur über die Erhebung von Steuern und Abgaben finanzierbar. Der Wohlfahrtsstaat muss deshalb von denjenigen, die am Markt Einkommen und Vermögen erzielen, entsprechende Gewinne abschöpfen, um sie für diejenigen verwenden zu können, die auf Dauer oder nur für eine bestimmte Zeit ihre Aufwendungen nicht durch Markteinkommen begleichen können. Derartige Eingriffe stehen jedoch im Gegensatz zu einem anderen, für moderne Wohlfahrtsstaaten ebenfalls konstitutiven normativen Leitprinzip: Es ist dies das Ideal meritokratischer Gesellschaften, wonach die Belohnungen, die jemand erhält, allein von seinen Anstrengungen, seinem Einsatz und seinen individuellen Leistungen abhängen sollten. Diese Logik der Leistungsgerechtigkeit fordert, dass diejenigen, die viel leisten, auch viel erhalten sollten und umgekehrt auch diejenigen, die sehr wenig leisten, nur sehr wenig erhalten sollten.
Wie ich weiter oben bereits angedeutet habe: auch hier schwebt im Hintergrund die unausgesprochene Prämisse, dass einem geringen Lohn stets auch eine entsprechend geringe (und somit implizit "gerecht" entlohnte) Leistung gegenüberstehen würde. Es wird offenbar mit größter Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, dass die von den selbsternannten ("Höchst"-)Leistungsträgern den "weniger Leistungsfähigen" zugebilligten "Vergütungen" stets in (objektiv) angemessenem Verhältnis zur je erbrachten Leistung stünden. Kurz: der "Arbeitgeber" zahlt immer "leistungsgerecht" und wenn diese leistungsgerechte Bezahlung dann - nicht auch "bedarfsgerecht" ausfällt, ist das nicht seine Sache, sondern ausschließlich dem zu niedrigen Leistungsvermögen des jeweiligen Lohnempfängers geschuldet. Hier wird die ganze Perversität der Lohnarbeit offenbar: kein Sklavenhalter könnte es sich erlauben, seinen Knechten weniger als die "bedarfsgerechten" Mittel, die diese zum Leben benötigen, zukommen zu lassen, wenn er in den vollen Genuss von deren Leistungsvermögen kommen will; das macht erst die "freie" Lohnarbeit möglich, deren "leistungsgerechte" Bezahlung ganz vorzüglich den Bedürfnissen der herrschenden, besitzenden Klasse entspricht.
Nun könnte man natürlich sagen, dass es die Aufgabe der Wissenschaft sei, "wertfrei" und "neutral" zu beobachten; sich auf das "Faktische" - das Sein - zu beschränken und das "Sollen" außen vor zu lassen. Allein das - so scheint mir - ist in dieser Disziplin ein schier unmögliches Unterfangen: denn das, was hier als Faktum "ans Licht gebracht" wird, ist immer schon ein sollendes Sein oder das Sein eines Sollens. Es ist ein Sein, das subjektiven Interessen und Machtverhältnissen entspringt, es ist, wie es ist, weil es so sein soll, wie es ist, und wer dieses Sein - als ein bloß kontingentes, ein auch ganz anders mögliches - nicht in Frage stellt, und es auf seine - auch objektive - Angemessenheit untersucht, wendet bereits eine Wertung an, mit der er sich auf die Seite der herrschenden Verhältnisse schlägt; er ist parteiisch.
[Zusatz] Ein Ansatz für eine annähernd objektive Bewertung der bestehenden Verhältnisse, wäre die Grundannahme, dass, wer zum besonderen Vorteil eines anderen diesem seine ganze Arbeitskraft zur Verfügung stellt, erwarten darf, dass er im Gegenzug vom unmittelbaren Nutznießer seiner Arbeit mindestens die Mittel erhält, die er unter gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen benötigt, um seine veräußerte Arbeitskraft (zwecks fortdauernder Veräußerung) zu erhalten, was übrigens nicht einmal eine moralische Forderung, sondern nur eine der "objektiven" ökonomischen Logik wäre: wer etwa als Speditionsunternehmer, wenn er eine Strecke von 100 km bewältigen muss, nur für 50 Km ausreichenden Sprit bezahlen will, wird damit - im wahrsten Sinne des Wortes - nicht weit kommen. Dass das Kapital (nur) die Reproduktionskosten der verausgabten Arbeitskraft ersetzt, diese aber auch (mindestens) ersetzen
muss, das wusste schon der alte Marx, ist also alles andere als eine neue Erkenntnis. Ob ein aus dieser Prämisse sich ergebendes Verhältnis dann schon als "gerecht" anzusehen wäre, steht freilich auf einem ganz anderen Blatt und darf getrost bezweifelt werden. Immerhin aber könnte diese Grundannahme wenigstens als halbwegs "objektiv" durchgehen, denn wer nicht genug für seine Arbeit bekommt, kann - ganz objektiv gesehen - auch nicht arbeiten.
Angemerkt sei noch, dass Kombilöhne den Unternehmen nicht nur erlauben, Arbeitskraft unter ihrem eigentlichen Wert einzukaufen, sondern verdeckt dazu führen, dass auch der Preis der Arbeitskraft aller anderen effektiv sinkt, denn am Ende werden Einkommen aus - Einkommen subventioniert. Daran ändert auch das ewige Geplärre von den 10% Spitzenverdienern, die die Hälfte aller Einkommenssteuern zahlen, nichts - wem dieses Verhältnis nicht passt, der soll die Einkommen eben - von vornherein - umverteilen; wären die Einkommen einigermaßen ausgeglichen verteilt, dann wäre das auch bei den Einkommenssteuern der Fall.