Ferndiagnose: Thilo Sarrazin "Nicht behandlungsbedürftig - eher erfrischend"
Die Berliner Zeitung befragte am Dienstag den Psychiater Steffen Lau zur "anhaltende[n] Freude des Senators am provozieren":
?: Herr Lau, Thilo Sarrazin kann es nicht lassen zu provozieren. Nach seiner Speiseplan-Empfehlung für Hartz-IV-Empfänger, der Äußerung über übel riechende Beamte, der Empfehlung bei steigenden Energiekosten einen Pullover anzuziehen und der Aussage, dass Berliner Schüler mit Abschluss weniger könnten als bayerische ohne Abschluss, rät er nun davon ab, den Hartz-IV-Satz zu erhöhen, weil das Geld eh nur für MP3-Player ausgegeben würde und in Südchina lande. Muss man den Mann behandeln?
!: Nein.
Derzeit im Genuß eines vierwöchigen Gratisabonnements besagter Zeitung, hatte ich doch das Pech dieses hochinteressante Gespräch nicht in der gedruckten Fassung lesen zu können, denn am Dienstag lag statt der Berliner Zeitung ein Tagespiegel im Briefkasten, mit dem lapidaren Vermerk versehen: "Morgen bekommen Sie wieder die Berliner Zeitung. Ihr Zusteller."
So wurde ich also erst am Mittwoch auf das Interview aufmerksam gemacht und zwar durch die Zuschrift eines erfreuten Lesers, abgedruckt auf Seite 4, den ich nachstehend wiedergebe und zu dem ich ein paar Worte sagen möchte.
Diogenes gilt als Begründer der kynischen Philosophie und aus dem Wort Kyniker entwickelte sich der "Zyniker". Dem Namen nach das Gleiche, handelt es sich hierbei dennoch nicht um das Selbe; es gibt einen kleinen aber feinen Unterschied, den Peter Sloterdijk in seiner "Kritik der zynischen Vernunft" (geschrieben, lang ehe er mit Köhler kollaborierte) m. E. treffend herausgearbeitet hat:
Zugespitzt: während der Kyniker furchtlos die Mächtigen, ihre Speichellecker, Handlanger und Mitläufer attackiert, verhöhnt der Zyniker aus der Position der Unangreifbarkeit diejenigen, die seiner Macht ausgeliefert sind.
So mag es wohl zutreffen, dass Herr Sarrazin ein Zyniker ist, aber ein moderner Diogenes ist er ganz gewiss nicht. Ich muss freilich gestehen: ich wünschte fast, er wäre einer. Man stelle sich vor: statt seine Hirnwichserei in Presse und Internet ertragen zu müssen, würde man ihn täglich - wie einst den Diogenes auf der Agora - auf dem Vorplatz des Roten Rathauses antreffen können: sich umstands- und hemmungslos seinen Gelüsten hingebend, masturbierend, kopulierend und das Wasser des Neptunbrunnens aus der hohlen Hand saufend. Die Diagnose des Psychiaters dürfte dann freilich deutlich anders ausfallen.
Merke:
;-)
Wer die Vorstellung des einen "klassischen" Kynismus praktizierenden Berliner Finanzsenators verständlicherweise eher gruselig als belustigend findet, sollte bedenken: auf einen Besuch des Roten Rathauses lässt sich vermutlich leichter verzichten, als auf Presse, Funk und Internet.
So wurde ich also erst am Mittwoch auf das Interview aufmerksam gemacht und zwar durch die Zuschrift eines erfreuten Lesers, abgedruckt auf Seite 4, den ich nachstehend wiedergebe und zu dem ich ein paar Worte sagen möchte.
So wie Diogenes aus der Tonne beschreibt Sarrazin aus dem Senat in sarkastischer Weise die Wirklichkeit. Ich freue mich immer schon auf weitere markante Sprüche von Herrn Sarrazin, der uns damit den Spiegel vorhält. Es muss auch Politiker geben die sich trauen, die Wahrheit zu sagen, Übrigens: Diogenes der Philosoph, vertrat eine Lehre der Bedürfnislosigkeit und lebte daher, laut Berichten in einer Tonne.Zunächst einmal, der Zusammenhang zwischen dem Berliner Senat und einer Tonne ist in meinen Augen eigentlich nur, dass man jenen endlich in diese treten sollte, aber darum geht es mir eigentlich nicht. Es geht mir vielmehr darum, dass Diogenes m. E. keineswegs eine "Lehre der Bedürfnislosigkeit" vertrat, sondern vielmehr eine der unmittelbaren, umstandslosen Bedürfnisbefriedigung - wenn man so will: einen höchst unkomplizierten, rabiaten Hedonismus. Und den lehrte er nicht nur, er praktizierte ihn auch.
Erwin G[...], per E-Mail.
Diogenes gilt als Begründer der kynischen Philosophie und aus dem Wort Kyniker entwickelte sich der "Zyniker". Dem Namen nach das Gleiche, handelt es sich hierbei dennoch nicht um das Selbe; es gibt einen kleinen aber feinen Unterschied, den Peter Sloterdijk in seiner "Kritik der zynischen Vernunft" (geschrieben, lang ehe er mit Köhler kollaborierte) m. E. treffend herausgearbeitet hat:
Die Antike kennt den Zyniker (besser: Kyniker) als einzelgängerischen Kauz und als provozierenden eigensinnigen Moralisten. Diogenes in der Tonne gilt als Erzvater dieses Typus. Im Bilderbuch der Sozialcharaktere steht er seither als distanzerzeugender Spötter, als bissiger und böser Individualist, der niemanden zu brauchen vorgibt und von niemandem geliebt wird, weil er keinen unverletzt unter seinen kraß entlarvenden Blick kommen läßt. Seinem sozialen Ursprung nach ist er eine städtische Figur, die im Getriebe der antiken Metropole ihren Schliff erhält. Man könnte ihn als frühe Ausprägung deklassierter oder plebejischer Intelligenz bezeichnen. Seine "zynische" Kehre gegen die Arroganz und die moralischen Betriebsgeheimnisse der höheren Zivilisation setzt die Stadt, samt ihren Erfolgen und Schatten, voraus. Erst in ihr, als ihr negatives Profil, kann die Zynikergestalt sich unterm Druck des öffentlichen Geredes und der allgemeinen Haßliebe zu voller Schärfe auskristallisieren. Und die Stadt allein kann den Zyniker, der ihr ostentativ den Rücken kehrt, in die Gruppe ihrer Originale aufnehmen, an denen ihre Sympathie für geprägte, urbane Individuen hängt.
Der neuzeitliche Nährboden des Zynismus findet sich sowohl in der Stadtkultur wie in der höfischen Sphäre. beide sind Prägestöcke eines bösen Realismus, von dem die Menschen das schiefe Lächeln offener Unmoral erlernen. Hier wie dort akkumuliert sich in weltläufigen intelligenten Köpfen ein mondänes Wissen, daß sich elegant zwischen nackten Tatsachen und konventionellen Fassaden hin und her bewegt. Von ganz unten aus der deklassierten städtischen Intelligenz, und ganz oben aus den Spitzen des staatsmännischen Bewusstseins, dringen Signale in das seriöse Denken, die von einer radikalen Ironisierung der Ethik und der gesellschaftlichen Konvention Zeugnis ablegen, gewissermaßen, als seien die allgemeinen Gesetze nur für die Dummen da, während um die Lippen des Wissenden jenes fatal kluge Lächeln spielt. Genauer: es sind die Mächtigen, die so lächeln, während die kynischen Plebejer ein satirisches Gelächter hören lassen. Im großen Raum des zynischen Wissens begegnen sich die Extreme: Eulenspiegel trifft auf Richelieu; Machiavelli auf Rameaus; die lauten Condottieri der Renaissance auf die eleganten Zyniker des Rokkoko; skrupellose Unternehmer auf desillusionierte Aussteiger; abgebrühte Systemstrategen auf ideallose Verweigerer.
Peter Sloterdijk. Kritik der zynischen Vernunft. Suhrkamp Verlag. FfM 1983. S. 34f.
Zugespitzt: während der Kyniker furchtlos die Mächtigen, ihre Speichellecker, Handlanger und Mitläufer attackiert, verhöhnt der Zyniker aus der Position der Unangreifbarkeit diejenigen, die seiner Macht ausgeliefert sind.
So mag es wohl zutreffen, dass Herr Sarrazin ein Zyniker ist, aber ein moderner Diogenes ist er ganz gewiss nicht. Ich muss freilich gestehen: ich wünschte fast, er wäre einer. Man stelle sich vor: statt seine Hirnwichserei in Presse und Internet ertragen zu müssen, würde man ihn täglich - wie einst den Diogenes auf der Agora - auf dem Vorplatz des Roten Rathauses antreffen können: sich umstands- und hemmungslos seinen Gelüsten hingebend, masturbierend, kopulierend und das Wasser des Neptunbrunnens aus der hohlen Hand saufend. Die Diagnose des Psychiaters dürfte dann freilich deutlich anders ausfallen.
Merke:
Die Erinnerung an die Bisse des Diogenes gehört zu den lebhaftesten Eindrücken, die sich aus der Antike erhalten haben. Daher beruht das humoristische Einverständnis mancher ironisch gestimmter Bürger mit diesem Philosophen fast immer auf einem verniedlichenden Mißverständnis. Es gibt im Bürger einen eingesperrten Wolf, der mit dem beißenden Philosophen sympathisiert. Dieser sieht in seinen Sympathisanten in erster Linie aber doch den Bürger und beißt allemal.
Peter Sloterdijk. Kritik der zynischen Vernunft. Suhrkamp Verlag. FfM 1983. S. 297.
;-)
Wer die Vorstellung des einen "klassischen" Kynismus praktizierenden Berliner Finanzsenators verständlicherweise eher gruselig als belustigend findet, sollte bedenken: auf einen Besuch des Roten Rathauses lässt sich vermutlich leichter verzichten, als auf Presse, Funk und Internet.
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