Montag, 10. November 2008

Gewissensgründe?


Kants Lehre vom Gewissen

Die angebliche praktische Vernunft mit ihrem kategorischen Imperativ ist offenbar am nächsten verwandt mit dem Gewissen, wiewohl von diesem erstlich darin wesentlich verschieden, daß der kategorische Imperativ, als gebietend, nothwendig VOR der That spricht, das Gewissen aber eigentlich erst hinterher. VOR der That kann es höchstens INDIREKT sprechen, nämlich mittels der Reflexion, welche ihm die Erinnerung früherer Fälle vorhält, wo ähnliche Thaten hinterher Mißbilligung des Gewissens erfahren haben. Hierauf scheint mir sogar die Etymologie des Wortes GEWISSEN zu beruhen, indem nur das bereits Geschehene GEWISS IST. Nämlich in jedem, auch dem besten Menschen steigen, auf äußern Anlaß, erregten Affekt, oder aus innerer Verstimmung, unreine, niedrige, boshafte Gedanken und Wünsche auf: für diese aber ist er moralisch nicht verantwortlich und dürfen sie sein Gewissen nicht belasten. Denn sie zeigen nur an, was DER MENSCH ÜBERHAUPT, nicht aber was ER der sie denkt zu thun fähig wäre. Denn andere Motive, die nur nicht augenblicklich und mit jenen zugleich ins Bewusstsein treten, stehen ihnen bei ihm, entgegen; so daß sie nie zu Thaten werden können: daher sie der überstimmten Minorität einer beschließenden Versammlung gleichen. An den Thaten allein lernt ein Jeder sich selbst, so wie die Andern, empirisch kennen und nur SIE belasten das GEWISSEN. Denn sie sind nicht problematisch wie die Gedanken, sondern, im Gegensatz hievon, GEWISS, stehen unveränderlich da, werden nicht bloß gedacht, sondern GEWUSST. Mit dem Lateinischen verhält es sich ebenso: es ist das Horazsche conscire sibe, pallescere culpa. [...]. Es ist das WISSEN des Menschen um Das, was er gethan hat. Zweitens nimmt das Gewissen seinen Stoff stets aus der Erfahrung, welches der angebliche kategorische Imperativ nicht kann, da er rein a priori ist.
Arthur Schopenhauer. Werke in fünf Bänden. Bd.3 Kleinere Schriften. Preisschrift über die Grundlage der Moral. Haffmanns Verlag AG. Zürich 1988. S.526
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bestimmt, dass der Abgeordnete nur seinem Gewissen unterworfen sei.
Artikel 38

(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

Das gilt freilich für alle Abgeordneten und das nicht nur bei besonderen Anlässen, sondern für jede einzelne Entscheidung eines jeden Parlamentsmitgliedes, die dieses in seiner Eigenschaft als Abgeordneter zu treffen hat. Es gibt also gar keinen Anlass, das "Gewissen" bei einer einzelnen Entscheidung als "besonderen" (oder gar einzigen!) Beweggrund anzugeben, während man bei allen anderen Entscheidungen ohne einen solchen Verweis auskommt. Kurz: der Verweis auf das Gewissen ist als Rechtfertigung für politische Handlungen nicht hinreichend. Das "Gewissen" ist nicht Grund sondern Instanz. Es schließt an moralische Grundvorstellungen, Prinzipien oder Maximen erst an und fällt seine Urteile in Abhängigkeit von diesen. Und wer sich auf sein Gewissen beruft, kommt nicht umhin, dennoch seine Handlungsgründe (die durchaus auch moralischer Natur sein können) anzugeben. Im Falle der hessischen SPD-Umfaller scheint es mir, als wollten sie sich genau um diese Darlegung ihrer Gründe drücken. Wer - wie Carmen Everts, Silke Tesch und Jürgen Walter - aber in einer Situation, die er nicht begründen will oder kann, auf sein Gewissen als "Grund" seines Handels verweist, der treibt Schindluder mit der verbrieften Gewissensfreiheit, die eben nicht Ausnahmefällen - als Notausgang - vorbehalten bleiben soll, sondern ganz selbstverständliches Moment aller Handlungen und Entscheidungen.

Böswilligere Naturen als ich könnten da womöglich auf die Idee kommen, dass, wer nur alle Jubeljahre mal sein "Gewissen" entdeckt, die übrige Zeit offenbar auch ohne dieses recht gut durchs Leben kommt.

;-)

2 Kommentare:

Anonym,  11. November 2008 um 00:08  

Gute Analyse der vermeintlichen "Gewissensbegründung". Es ist in diesem Falle wirklich sehr zweifelhaft. Schließlich haben alle vier Abgeordneten vorher breit in der Presse angegeben, dass sie eine SPD, die von der Linkspartei in Hessen toleriert wird, mittragen werden. Dass sie nun so kurzfristig auf einmal von ihrem Gewissen geplagt werden, ist mehr als auffällig.

Aber abgesehen davon, ist Artikel 38 schön und notwendig - in der alltäglichen Politik gelten jedoch häufig Fraktionszwang, Basta-Politik, Pöstchen-Geschacher und Partei-Soldatentum...das Gewissen kommt bei vielen Abgeordneten häufig erst sehr viel später. Auch deshalb ist die "Gewissensbegründung" der vier Verräter (nichts anderes sind sie!) sehr zweifelhaft.

Kurt aka Roger Beathacker 11. November 2008 um 02:14  

Ja, Artikel 38 ist schon okay. Dagegen wende ich mich ja auch nicht. Es geht nur um die Auslegung. Das Gewissen als "Letztbegruendung" - das waere eine Art Schwarzes Loch, mit dem sich praktisch alles "rechtfertigen" liesse. Ich denke, dass der Artikel so auch nicht gemeint ist, sondern einfach verhindern soll, dass ein Abgeordneter, weil er seine Minderheitenposition nicht aufgibt, deswegen nicht sanktioniert oder drangsaliert werden darf. D.h. er darf und soll seine Ansichten und Prinzipien haben, aeussern und vor allem demgemaess handeln, ohne dass seine Fraktions- oder Parteigenossen sich deshalb zu seinen Richtern aufschwingen duerften - genau dieser Part, das Urteil ueber die Richtigkeit seines Handelns bleibe allein seinem "Gewissen" vorbehalten. Im Falle der drei Hessen wuerde das bedeuten: sie erklaeren, dass sie nicht und aus welchen sachlichen und/oder konkret moralischen Gruenden, sie nicht fuer Ypsilanti stimmen und den Rest machen sie mit ihrem Gewissen aus - ohne aber mit dieser Selbstverstaendlichkeit auch noch hausieren zu gehen.

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